- Hätten Sie doch was gesagt. Ich hätte Ihnen was mitgebracht. Ein bisschen Erde habe ich ja noch.
- Für heute bin ich eh fertig. Danke.
Johanna reibt sich ihre Hände, entfernt dabei den gröbsten Dreck. Dann wischt sie sie in ihrer Schürze ab. Eine Schürze, die sie immer mitnimmt, wenn sie auf den Friedhof geht. Auch dann, wenn sie keine Blumen pflanzt. Eine Küchenschürze, eigentlich. Eine, die ihr heilig ist. Heilig, seit dem Tag, an dem sie ein letztes Mal mit Sarah den Teig ausrollte, um Sonne, Mond und Sterne und ihre Namen auszustanzen. Mürbeteig für Kekse. Kekse für die Adventstage. Nun ist sie eine Friedhofschürze. Eine, die Johanna nach jedem Gang wäscht, trocknet, bügelt, faltet und anschließend in den Schrank legt. Oben in das oberste Fach. Neben all ihren Sachen. Liebevoll beklommen.
- Schön ist es heute, nicht wahr? Die Sonne scheint so richtig schön. Wirft so ein warmes Licht. So ein schönes Herbstlicht. So richtig schön das Wetter heute. Ich habe Astern gepflanzt. Jetzt, wo wir in den Herbst kommen. Dieses Mal sind es rote, tief rote. Weiß auch nicht wieso, aber ich stand im Laden … Sie wissen schon, da hinten in der Gärtnerei Grünthal, da in der Schubertstraße, die haben ja auch einen Laden vorne … da lachten mich die Blumen einfach an. Hm irgendwie wie ich kam, sah und kaufte, Erde gleich mit, und kaufte und kaufte. Nun habe ich noch welche über. Wenn sie wollen …
Vor ihr, schon auf der Bank, sitzt André. Leicht gebeugt schaut er in seine großen, seine leeren Handflächen. Neben ihm, wohlgeordnet auf dem Fußboden, Schaufel und Harke, und die Gießkanne. Gartengeräte eben. Geräte, die für heute ihren Dienst getan haben. Die, wie immer, akkurat beieinander liegen und ruhen. Ein Ritual. Für André ein notwendiges, um bei sich, um beieinander zu bleiben. Seit dem Brand legt er nach getaner Arbeit die Gartengeräte exakt nebeneinander, als lägen sie neben Solveig, als läge Solveig neben ihm.
- Ach nein. Aber danke. Sehen schön aus. Ja, doch. Kräftig. Auch die Blüten. Kommen gut, voll und satt. Gefällt mir. Mag aber nicht mehr, mag nicht, nicht mehr, nicht …
Seine Sprache kippt mit seinem Oberkörper vornüber, aufgefangen von seinen Schaufelhänden. Johanna setzt sich. Nicht auf die Seite, wo die Geräte liegen, das würde sie sich nicht trauen, wahrscheinlich nie. Sie setzt sich, wie jeden Donnerstag, auf die andere Seite neben ihn. Langsam beschleicht sie das Gefühl, sie habe sich heute zu ihm, nicht neben ihn gesetzt. Johanna schwenkt ihren Kopf von links nach rechts, ein wenig schräg. Als müsse sie André in seiner Schwermut bestätigen.
Sie schweigt.
Beide Schweigen.
Und schweigen.
Schwerfällig.
Die Zeit bleibt stehen und geht weiter. Johanna hebt ihren Kopf, blinzelt in die Sonne und streicht sich mit dem Handrücken eine Strähne aus dem Gesicht.
- Wenn wir demnächst keinen Regen kriegen, steht es schlecht um unsere Pflanzen.
- Ja, aber ich mag nicht.
- Ich sehe, Sie haben Efeu gepflanzt.
- Ja, er ist beständig.
- Noch viel zu früh. Ich würde an Ihrer Stelle noch frische Blumen setzen. Nächste Woche kann ich Ihnen Zwiebeln mitbringen. Für das Frühjahr. Tulpen, Narzissen und so. Krokusse vielleicht noch. Die sollten demnächst unter die Erde, damit sie gut kommen. Die Tage werden jetzt schnell kürzer und schon kommt der erste Frost. Was meinen Sie?
- Das wollen Sie machen? Das ist nett. Vielleicht blüht es nächstes Jahr besser. Dieses Jahr habe ich kein Fortune.
- Mit der Zeit kommt Übung und mit der Übung heilen auch die Wunden.
- Ja, aber ich mag nicht.
- Vielleicht nächsten Donnerstag. Ich bringe sie alle mit und auch noch Erde. Torf. Der deckt den Boden schön ab. Wärmt …
- … die Pflanzen ...
- … und die Menschen, die Pflanzen werden wollen.
- Sie haben Ihre Tochter nicht verbrannt?
- Nein. Erst wollte ich, aber dann. Ach, ich konnte nicht. Ich denke, so sehe ich sie noch, treffe sie. So nähre ich sie weiter. Durch die Pflanzen nähre ich sie weiter und weiter. Irgendwann will ich einen Ginkgobaum pflanzen. Der kann bis zu tausend Jahre alt werden. Ein Baum, der nährt, der genug an Nahrung hat. Genug für sie. Ein Baum, der mich ... ach.
- Wie lange ist es her?
- Nicht so.
Sie schweigt.
Beide Schweigen.
- Und Sie? Haben Sie Ihre Frau verbrennen lassen?
- Ja.
- Warum?
Er schweigt.
Ein peinliches Schweigen, wie er schweigt.
Dann ein tiefes Seufzen.
- Das Geld reichte nicht. Und von ihr war. Da war ja auch. Da war nicht mehr. Da war nicht viel.
Stille.
- Egal. Ich finde es sauberer. Glatter. Reinigender. Danach hatte ich einfach das Gefühl von … wie soll ich sagen … von Katharsis. In dem Moment, als sie ins Feuer geschoben wurde, flog Solveig in den Himmel und verteilte sich. Mit jedem Regen, jedem Windhauch, jedem Sonnenstrahl fällt etwas von ihr nieder. Auf mich herab. Etwas, das ich mit ins Bett nehmen kann.
André kommt hoch, lehnt seinen mächtigen Körper nach hinten, breitet seine Arme aus und legt sie über die Rücklehne. Fast berührt er dabei ihre Schulter. Johanna merkt einen Hauch. Nähe. Unbeweglich bleibt sie sitzen. Mit gekrümmten Rücken auf der Bank wiegt sie ihren Kopf in ihren Händen. Stützend. Vor ihr, da breiten sich die Kekse aus, werden zu Mürbeteig. Schnell sollten sie noch fertig werden. Den Teig mischen, kneten, kühlen, rollen, kneten, rollen, stanzen und auf dem Blech verteilen. Sonne, Mond, Sterne, die Ss, die as, die rs, die hs, der Rest, der wurde vernascht. Mehr von Sarah, weniger von ihr. Schnell, schnell, das Blech in den Ofen, schnell, schnell.
- Und sind sie verbrannt?
- Wer?
- Na, die Kekse.
- Ich habe mich immer wieder gefragt, ob ich in meiner Hast, in meinem Überschlagen nicht genügend aufgepasst habe, nicht ausgewichen bin. Wir hätten auch eine Stunde später fahren können. Dann wäre der Verkehr … ach … ich weiß es nicht. Dieses schreckliche Nichtwissen, ist das, was mich quält.
Sie schweigt.
- Meine Therapeutin meint, mich treffe keine Schuld. Immerhin sei das Auto auf meins aufgefahren. So spricht sie. Rechtlich ist es ja so. Da hat sie ja Recht.
- Rechtlich.
- Ja, rechtlich, ja. Aber ich habe meine Tochter nicht schützen können! Nicht schützen. Als ihre Mutter. Was bin ich denn für eine Mutter!
Johannas Stimme hebt an und vibriert. Brust, Rücken beben, sie schnappt nach Luft. Fast möchte André seinen Arm um sie legen. Fast. Doch ein Druck in seiner Brust hält ihn zurück. Er dreht den Kopf zur Seite und guckt auf seine gut sortierten Gartengeräte. Kurz nickt er ihnen zu. Dann zieht er langsam seine Arme von der Lehne an seinen Körper, faltet die Hände und legt sie gezielt zwischen seine nun übereinandergeschlagenen Beine. In jeder Bewegung verweilt einen Augenblick, schenkt ihnen Beachtung. Bewusst und langsam misst er ihnen Bedeutung zu. Am Ende bleibt sein Blick auf dem gejäteten, aufgelockerten, dem geharkten Grab. Vielleicht sollte ich ihre roten Astern versuchen, sinniert er. Nickt dabei fast bestätigend mit seinem Kopf. Fast.
- Sie heißt Solveig. Meine Frau.
- Ein schöner Name. Er kommt sicherlich aus dem Norden. Ich habe meine Tochter Sarah genannt … haben wir.
- Was ist mit Sarahs Vater?
- Niklas hat uns verlassen. Tatsächlich wollte er kein Kind. Von allem zu viel und zu früh. Verantwortung, Bindung, Risiko. Er traute es sich einfach nicht zu, hatte Angst, es könnte schief gehen. Er fand, er könne einem Kind nicht gerecht werden, sich auf die Hilflosigkeit einlassen, und, und, und. Und ist dann doch geblieben, bis. Der Unfall hat ihm Recht gegeben. Wir konnten ihr kein Leben ermöglichen. Ich konnte nicht. Sie starb in meiner Obhut.
Johanna starrt auf Sarahs Grab und fixiert die roten Astern. Wie die sich in der leichten Brise beugen und biegen, sich in ihr wiegen, beleuchtet und gewärmt von der Oktobersonne. Leise laufen ihr die Tränen über ihre Wangen.
- Es brannte. Wir wurden zur Evakuierung aufgefordert. Alles stand schon bereit. Nur wollte Solveig nicht. Partout nicht.
André bricht ab. Aus dem Grab steigen Flammen. Flammen über Flammen, hoch lodernd in gelb, orange, rot, orange, an den Rändern bläulich. Ein Farbenspiel, das zum Ende hin den Himmel rot ausmalt. Rot über rot über rot zischt und birst es um ihn herum. André sitzt schweigend auf der Bank und hört das Holz der Kiefern in der Feuerbrunst knacken, bersten, krachen. Erstarrt.
- Soweit das Auge reicht, waren wir von hoch aufgeschossenen Kiefern umgeben. In Reih und Glied, wie wir immer sagten, stehen sie wie Soldaten. Damit sie leicht gefällt werden konnten. Nutzholz eben. Über die trockenen Jahre ausgedörrt waren sie in den Himmel geschossen, wurden zu Feuerfutter. Geradezu ideal. Das Feuer fraß und fraß sich durch und überall. Bald trennte uns nur noch die Straße. Feuerwehr, Polizei, Technisches Hilfswerk, Rotes Kreuz – alle waren in Aktion. Wir waren die letzten in der Straße.
Er schweigt.
- Das Leben selbst wurde eine einzige Abwägung. Am Anfang waren wir klar: Wir geraten in Gefahr, unser Leben gerät in Gefahr: Wir gehen. Dann redeten wir. Den ganzen Morgen über redeten wir. Hin und her. Redeten darüber, was klüger wäre: Das Haus aufzugeben und der Aufforderung zur Evakuierung Folge zu leisten oder das Haus zu verteidigen. Denn, wie ginge das Leben ohne das Haus? Wo sollten wir hin? Können wir einfach ein neues Leben anfangen? So ohne die Sachen, die zu uns sprechen? Ohne die Dinge, die uns inspirieren, an die wir anknüpfen können? So ohne die Erzählung, die uns jeden Tag aufs Neue weiterträgt? Und je länger wir redeten, so hin und her, desto mehr zerstäubte sich die Klarheit, wich einer Last unentscheidbarer Gedanken. Sobald sich Kriterien abzeichneten, rieben sie sich am nächsten Gedanken. Je verwaschener sie wurden, desto unmöglicher erschien uns ein Leben danach. In Solveig reifte der Gedanke der Verteidigung. Sie, die selten kämpfte, entwickelte unbändige Kräfte. Noch während wir redeten, hin und her, fing sie an, das Haus zu befeuchten. Holte Lappen, Feudel, Tücher, zuletzt die Bettwäsche von oben, trug sie nass triefend durch den Raum, um damit die Hauswände abzudecken. Dann fing sie zu sammeln an. Alles, was ihr lieb und teuer war, stopfte sie in Wäschekörbe, Kisten und Kartons, brachte all die Sachen auf den Dachboden. Sie wühlte, schleppte, ackerte, derweil ich unten in dem Zimmer stehen blieb. Je näher der Zeitpunkt anrückte, desto mehr redeten wir. Hin und her. Bis ich anfing, mich zu fürchten. Vor dem Leben, der Zukunft, vor ihr. Angewurzelt sah ich die Feuerwand auf uns zukommen. Sah die lodernden Flammen durch das Wohnzimmerfenster, sah durch diese übergroße Scheibe das Feuer auf mich zurasen, immer schneller. Hörte das Knistern und Knacken. Fühlte Angst in mir wachsen, lähmende, bleierne Angst, in mir, tief in mir, tief, tief.
Stille.
Auf Stille folgt Schweigen.
Auf Schweigen folgt Schweigen folgt
Stille.
- Wir werden hier keine Kiefern, keine Tannen pflanzen. Nichts dergleichen. Das verspreche ich Ihnen. Sie können mir trauen. Ich bin zufrieden mit der Birke, die am Rande unserer Gräber steht. Liebe ihr leichtes Schattenspiel, das Verse schreibt. Verse für die Seelen. Manchmal sitze ich hier und schaue einfach zu und lausche. Über Stunden, lange Stunden. Dann höre ich Sarah leise brabbeln. Auch wenn sie schon sprechen konnte, brabbelte sie so gerne. Ja, so gerne. Im Brabbeln formte sie Wörter. Wörter, die sie gerade aufschnappte, die sie noch nicht kannte. Und Wörter, die keiner kannte und kaum einer aufgriff. Die allein schon deshalb in Vergessenheit gerieten. Die nun mit ihr verschwunden sind. Für immer und immer und. Johanna weint.
- Manchmal, es klingt wahrscheinlich merkwürdig, da weine ich für immer. Da gleitet mein Leben zu Sarah, wo immer sie gerade ist. Da wird die Welt dann ewig. Da bleibt die Zeit für immer. Da bleibt für immer der Moment. Kein Tun, das ihn in Frage stellt. Kein Machen, das die Ewigkeit kippt. Kein Handeln, das den Frieden stört. Kein Ich, das mir gefährlich wird. Mir und Sarah.
- Was halten Sie von einem Ginster zwischen unseren Gräbern? Wenn er im Frühjahr seine Triebe über die Grabsteine wirft, schmücken seine Blüten den Text, untermalten ihn. So kommt der Schriftzug auf den Steinen zum Tragen, leuchtet uns an während wir hier sitzen und. Vielleicht doch lieber nichts gemeinsam pflanzen. Vielleicht ist es zu viel.
- Zuviel von was? Johanna dreht sich zu André. Verschwommen sieht sie in ein gütiges, ein trauriges Gesicht und legt die Hand auf seinen Arm. Impulsiv. Erschrocken zieht sie ihre Hand zurück und wendet sich dem Grab ihrer Tochter zu.
Sie schweigt.
- Alle sagten mir, mich treffe keine Schuld. Immerhin sei der Fahrer des Kleintransporters auf mich drauf gefahren. Es sei erwiesen, dass ich das Tempo richtig hielt, dass ich den Stau zur rechten Zeit erkannte, dass ich bremste, auch die Warnlampe betätigte. Nicht meine Eile, Hektik, meine Nervosität sei Ursache gewesen. Ihn treffe die Schuld, er habe für einen Moment nicht aufgepasst. Einen klitzekleinen Moment, der reichte schon aus. Er sei derjenige, der unkonzentriert gefahren sei. Er habe unter Zeitdruck gestanden, musste liefern, bekam noch weitere Anweisungen von seinem Chef, er möge jenes noch, und ob er auch an dieses gedacht habe.
Sie schweigt.
Was hätte ich tun können? Wie hätte ich ihn zur Ruhe bringen können? Was hätte ich machen sollen, dass er mitbekommt, was vor ihm passiert? Wir hatten doch noch immer das Schild Baby on board an der Heckscheibe kleben ...
- Mir sagte man, es sei Schicksal. Mein Schicksal. Denn auch ich hätte mich entscheiden müssen. Irgendwann habe ich mich losgerissen und bin aus dem Haus gerannt, den Rettungskräften entgegen. Meine Frau, meine Frau … Ist sie noch drinnen, fragte man mich. Ich schüttelte mit dem Kopf, nicht wissend, noch immer nicht, ob es ein Ja oder ein Nein bedeutet hat. Um mich herum, in mir, wurde es dunkel, eine dunkle Seele ...
Mit weiten Augen drehte André seinen Kopf, als wiederhole er die Szene.
- Ja, Schicksal ist ein schönes Wort. Ein Sack, der alles nicht Lösbare, nicht Erklärbare, nicht Verkraftbare verstaut. Nur, hinterher können wir nicht mehr so weiter machen wie zuvor. Dann kommen die Fragen. Beständig dringen sie in mein Leben. Viele kann ich beantworten oder verscheuchen, doch früher oder später kommt das Warum. Gleich einem Schlagbaum in der Landschaft versperrt es mir den Weg.
Sie schweigt.
- Was wäre, wenn ich mir mehr Zeit gelassen hätte, wenn ich gesagt hätte, ich habe noch eine vierjährige Tochter, die ich noch unterbringen muss und die ich nicht auf Zeit trimmen kann. Was wäre, wenn ich den Auftrag statt meine Tochter aufs Spiel gesetzt hätte. Was wäre dann?
- Dann wären Sie früher oder später arbeitslos und hätten noch weniger Möglichkeiten, für ihre Tochter zu sorgen. Wenn Sie schon „Was wäre wenn“ fragen, dann sollten Sie das Große und Ganze im Blick haben. Was wäre wenn wir anders lebten? Kein überbordendes Verkehrsaufkommen, kein menschenfressenden Arbeitsdruck, kein Anheizen des Klimas, keine Ausbeutung der Natur. All das.
- Und Sie meinen, dann würden keine Unfälle mehr passieren, keine Naturkatastrophen uns heimsuchen? Dann verhielten sich alle konzentriert, sachorientiert, entschieden das Richtige? Dann gäbe es keine Seelennöte mehr? Das meinen Sie?
Johanna hebt ihre Stimme und fuchtelt mit den Armen. Dann hält sie sich die Ohren zu.
- Nein. Nein, nein. Nein. Ich höre ihn noch. Ich höre den lauten Knall und dann den … den spitzen … den grellen … den kurzen, den überaus kurzen Aufschrei meiner Tochter … und dann die Stille. Grabesstille.
Sie schweigt.
Beide schweigen.
- Diese Stille höre ich. Höre sie jeden Tag.
- Ich möchte Ihnen nächsten Donnerstag Haselwurz mitbringen. Darf ich? Ihr dunkles, kräftiges Grün ihrer Blätter, ihre leuchtend blauen, ja fast dunkel fliederfarbenen, Blüten sind eine wunderschöne Antwort auf das Rot Ihrer Astern. Rund und satt. Inspirierend. Der Haselwurz wächst und vermehrt sich. Von alleine, will ich mal sagen. Er breitet sich aus, wie es ihm gefällt, findet Wege und bildet ganze Landschaften. Er wächst über die Ränder der Gräber über den Weg zur Wiese unter Bäumen und weiter in den Horizont. André breitet seine Arme aus und zeichnet einen wachsenden Raum.
Beobachtend lehnt sich Johanna zurück, lauscht seinen Ausführungen, verliert sich in der warmen Stimme, die immer leichter wurde, je tiefer ihr Ton anschlug. Ein Widerspruch. Ein Reiz. Eine Herausforderung. Wohl auch ein Risiko. Wie viel Verletzung in ihm schlummert, fragt sie sich, nicht ihn. Noch nicht. Wir sollten weiter, antwortet er ihr in Gedanken, nicht sich. Noch nicht. Vielleicht.