Entscheidungen in der Zeit

- Hätten Sie doch was gesagt. Ich hätte Ihnen was mitgebracht. Ein bisschen Erde habe ich ja noch.

- Für heute bin ich eh fertig. Danke.

Johanna reibt sich ihre Hände, entfernt dabei den gröbsten Dreck. Dann wischt sie sie in ihrer Schürze ab. Eine Schürze, die sie immer mitnimmt, wenn sie auf den Friedhof geht. Auch dann, wenn sie keine Blumen pflanzt. Eine Küchenschürze, eigentlich. Eine, die ihr heilig ist. Heilig, seit dem Tag, an dem sie ein letztes Mal mit Sarah den Teig ausrollte, um Sonne, Mond und Sterne und ihre Namen auszustanzen. Mürbeteig für Kekse. Kekse für die Adventstage. Nun ist sie eine Friedhofschürze. Eine, die Johanna nach jedem Gang wäscht, trocknet, bügelt, faltet und anschließend in den Schrank legt. Oben in das oberste Fach. Neben all ihren Sachen. Liebevoll beklommen.

- Schön ist es heute, nicht wahr? Die Sonne scheint so richtig schön. Wirft so ein warmes Licht. So ein schönes Herbstlicht. So richtig schön das Wetter heute. Ich habe Astern gepflanzt. Jetzt, wo wir in den Herbst kommen. Dieses Mal sind es rote, tief rote. Weiß auch nicht wieso, aber ich stand im Laden … Sie wissen schon, da hinten in der Gärtnerei Grünthal, da in der Schubertstraße, die haben ja auch einen Laden vorne … da lachten mich die Blumen einfach an. Hm irgendwie wie ich kam, sah und kaufte, Erde gleich mit, und kaufte und kaufte. Nun habe ich noch welche über. Wenn sie wollen …

Vor ihr, schon auf der Bank, sitzt André. Leicht gebeugt schaut er in seine großen, seine leeren Handflächen. Neben ihm, wohlgeordnet auf dem Fußboden, Schaufel und Harke, und die Gießkanne. Gartengeräte eben. Geräte, die für heute ihren Dienst getan haben. Die, wie immer, akkurat beieinander liegen und ruhen. Ein Ritual. Für André ein notwendiges, um bei sich, um beieinander zu bleiben. Seit dem Brand legt er nach getaner Arbeit die Gartengeräte exakt nebeneinander, als lägen sie neben Solveig, als läge Solveig neben ihm.

- Ach nein. Aber danke. Sehen schön aus. Ja, doch. Kräftig. Auch die Blüten. Kommen gut, voll und satt. Gefällt mir. Mag aber nicht mehr, mag nicht, nicht mehr, nicht …

Seine Sprache kippt mit seinem Oberkörper vornüber, aufgefangen von seinen Schaufelhänden. Johanna setzt sich. Nicht auf die Seite, wo die Geräte liegen, das würde sie sich nicht trauen, wahrscheinlich nie. Sie setzt sich, wie jeden Donnerstag, auf die andere Seite neben ihn. Langsam beschleicht sie das Gefühl, sie habe sich heute zu ihm, nicht neben ihn gesetzt. Johanna schwenkt ihren Kopf von links nach rechts, ein wenig schräg. Als müsse sie André in seiner Schwermut bestätigen.
Sie schweigt.
Beide Schweigen.
Und schweigen.
Schwerfällig.

Die Zeit bleibt stehen und geht weiter. Johanna hebt ihren Kopf, blinzelt in die Sonne und streicht sich mit dem Handrücken eine Strähne aus dem Gesicht.

- Wenn wir demnächst keinen Regen kriegen, steht es schlecht um unsere Pflanzen.

- Ja, aber ich mag nicht.

- Ich sehe, Sie haben Efeu gepflanzt.

- Ja, er ist beständig.

- Noch viel zu früh. Ich würde an Ihrer Stelle noch frische Blumen setzen. Nächste Woche kann ich Ihnen Zwiebeln mitbringen. Für das Frühjahr. Tulpen, Narzissen und so. Krokusse vielleicht noch. Die sollten demnächst unter die Erde, damit sie gut kommen. Die Tage werden jetzt schnell kürzer und schon kommt der erste Frost. Was meinen Sie?

- Das wollen Sie machen? Das ist nett. Vielleicht blüht es nächstes Jahr besser. Dieses Jahr habe ich kein Fortune.

- Mit der Zeit kommt Übung und mit der Übung heilen auch die Wunden.

- Ja, aber ich mag nicht.

- Vielleicht nächsten Donnerstag. Ich bringe sie alle mit und auch noch Erde. Torf. Der deckt den Boden schön ab. Wärmt …

- … die Pflanzen ...

- … und die Menschen, die Pflanzen werden wollen.

- Sie haben Ihre Tochter nicht verbrannt?

- Nein. Erst wollte ich, aber dann. Ach, ich konnte nicht. Ich denke, so sehe ich sie noch, treffe sie. So nähre ich sie weiter. Durch die Pflanzen nähre ich sie weiter und weiter. Irgendwann will ich einen Ginkgobaum pflanzen. Der kann bis zu tausend Jahre alt werden. Ein Baum, der nährt, der genug an Nahrung hat. Genug für sie. Ein Baum, der mich ... ach.

- Wie lange ist es her?

- Nicht so.

Sie schweigt.
Beide Schweigen.

- Und Sie? Haben Sie Ihre Frau verbrennen lassen?

- Ja.

- Warum?

Er schweigt.
Ein peinliches Schweigen, wie er schweigt. Dann ein tiefes Seufzen.

- Das Geld reichte nicht. Und von ihr war. Da war ja auch. Da war nicht mehr. Da war nicht viel.

Stille.

- Egal. Ich finde es sauberer. Glatter. Reinigender. Danach hatte ich einfach das Gefühl von … wie soll ich sagen … von Katharsis. In dem Moment, als sie ins Feuer geschoben wurde, flog Solveig in den Himmel und verteilte sich. Mit jedem Regen, jedem Windhauch, jedem Sonnenstrahl fällt etwas von ihr nieder. Auf mich herab. Etwas, das ich mit ins Bett nehmen kann.

André kommt hoch, lehnt seinen mächtigen Körper nach hinten, breitet seine Arme aus und legt sie über die Rücklehne. Fast berührt er dabei ihre Schulter. Johanna merkt einen Hauch. Nähe. Unbeweglich bleibt sie sitzen. Mit gekrümmten Rücken auf der Bank wiegt sie ihren Kopf in ihren Händen. Stützend. Vor ihr, da breiten sich die Kekse aus, werden zu Mürbeteig. Schnell sollten sie noch fertig werden. Den Teig mischen, kneten, kühlen, rollen, kneten, rollen, stanzen und auf dem Blech verteilen. Sonne, Mond, Sterne, die Ss, die as, die rs, die hs, der Rest, der wurde vernascht. Mehr von Sarah, weniger von ihr. Schnell, schnell, das Blech in den Ofen, schnell, schnell.

- Und sind sie verbrannt?

- Wer?

- Na, die Kekse.

- Ich habe mich immer wieder gefragt, ob ich in meiner Hast, in meinem Überschlagen nicht genügend aufgepasst habe, nicht ausgewichen bin. Wir hätten auch eine Stunde später fahren können. Dann wäre der Verkehr … ach … ich weiß es nicht. Dieses schreckliche Nichtwissen, ist das, was mich quält.

Sie schweigt.

- Meine Therapeutin meint, mich treffe keine Schuld. Immerhin sei das Auto auf meins aufgefahren. So spricht sie. Rechtlich ist es ja so. Da hat sie ja Recht.

- Rechtlich.

- Ja, rechtlich, ja. Aber ich habe meine Tochter nicht schützen können! Nicht schützen. Als ihre Mutter. Was bin ich denn für eine Mutter!

Johannas Stimme hebt an und vibriert. Brust, Rücken beben, sie schnappt nach Luft. Fast möchte André seinen Arm um sie legen. Fast. Doch ein Druck in seiner Brust hält ihn zurück. Er dreht den Kopf zur Seite und guckt auf seine gut sortierten Gartengeräte. Kurz nickt er ihnen zu. Dann zieht er langsam seine Arme von der Lehne an seinen Körper, faltet die Hände und legt sie gezielt zwischen seine nun übereinandergeschlagenen Beine. In jeder Bewegung verweilt einen Augenblick, schenkt ihnen Beachtung. Bewusst und langsam misst er ihnen Bedeutung zu. Am Ende bleibt sein Blick auf dem gejäteten, aufgelockerten, dem geharkten Grab. Vielleicht sollte ich ihre roten Astern versuchen, sinniert er. Nickt dabei fast bestätigend mit seinem Kopf. Fast.

- Sie heißt Solveig. Meine Frau.

- Ein schöner Name. Er kommt sicherlich aus dem Norden. Ich habe meine Tochter Sarah genannt … haben wir.

- Was ist mit Sarahs Vater?

- Niklas hat uns verlassen. Tatsächlich wollte er kein Kind. Von allem zu viel und zu früh. Verantwortung, Bindung, Risiko. Er traute es sich einfach nicht zu, hatte Angst, es könnte schief gehen. Er fand, er könne einem Kind nicht gerecht werden, sich auf die Hilflosigkeit einlassen, und, und, und. Und ist dann doch geblieben, bis. Der Unfall hat ihm Recht gegeben. Wir konnten ihr kein Leben ermöglichen. Ich konnte nicht. Sie starb in meiner Obhut.

Johanna starrt auf Sarahs Grab und fixiert die roten Astern. Wie die sich in der leichten Brise beugen und biegen, sich in ihr wiegen, beleuchtet und gewärmt von der Oktobersonne. Leise laufen ihr die Tränen über ihre Wangen.

- Es brannte. Wir wurden zur Evakuierung aufgefordert. Alles stand schon bereit. Nur wollte Solveig nicht. Partout nicht.

André bricht ab. Aus dem Grab steigen Flammen. Flammen über Flammen, hoch lodernd in gelb, orange, rot, orange, an den Rändern bläulich. Ein Farbenspiel, das zum Ende hin den Himmel rot ausmalt. Rot über rot über rot zischt und birst es um ihn herum. André sitzt schweigend auf der Bank und hört das Holz der Kiefern in der Feuerbrunst knacken, bersten, krachen. Erstarrt.

- Soweit das Auge reicht, waren wir von hoch aufgeschossenen Kiefern umgeben. In Reih und Glied, wie wir immer sagten, stehen sie wie Soldaten. Damit sie leicht gefällt werden konnten. Nutzholz eben. Über die trockenen Jahre ausgedörrt waren sie in den Himmel geschossen, wurden zu Feuerfutter. Geradezu ideal. Das Feuer fraß und fraß sich durch und überall. Bald trennte uns nur noch die Straße. Feuerwehr, Polizei, Technisches Hilfswerk, Rotes Kreuz – alle waren in Aktion. Wir waren die letzten in der Straße.

Er schweigt.

- Das Leben selbst wurde eine einzige Abwägung. Am Anfang waren wir klar: Wir geraten in Gefahr, unser Leben gerät in Gefahr: Wir gehen. Dann redeten wir. Den ganzen Morgen über redeten wir. Hin und her. Redeten darüber, was klüger wäre: Das Haus aufzugeben und der Aufforderung zur Evakuierung Folge zu leisten oder das Haus zu verteidigen. Denn, wie ginge das Leben ohne das Haus? Wo sollten wir hin? Können wir einfach ein neues Leben anfangen? So ohne die Sachen, die zu uns sprechen? Ohne die Dinge, die uns inspirieren, an die wir anknüpfen können? So ohne die Erzählung, die uns jeden Tag aufs Neue weiterträgt? Und je länger wir redeten, so hin und her, desto mehr zerstäubte sich die Klarheit, wich einer Last unentscheidbarer Gedanken. Sobald sich Kriterien abzeichneten, rieben sie sich am nächsten Gedanken. Je verwaschener sie wurden, desto unmöglicher erschien uns ein Leben danach. In Solveig reifte der Gedanke der Verteidigung. Sie, die selten kämpfte, entwickelte unbändige Kräfte. Noch während wir redeten, hin und her, fing sie an, das Haus zu befeuchten. Holte Lappen, Feudel, Tücher, zuletzt die Bettwäsche von oben, trug sie nass triefend durch den Raum, um damit die Hauswände abzudecken. Dann fing sie zu sammeln an. Alles, was ihr lieb und teuer war, stopfte sie in Wäschekörbe, Kisten und Kartons, brachte all die Sachen auf den Dachboden. Sie wühlte, schleppte, ackerte, derweil ich unten in dem Zimmer stehen blieb. Je näher der Zeitpunkt anrückte, desto mehr redeten wir. Hin und her. Bis ich anfing, mich zu fürchten. Vor dem Leben, der Zukunft, vor ihr. Angewurzelt sah ich die Feuerwand auf uns zukommen. Sah die lodernden Flammen durch das Wohnzimmerfenster, sah durch diese übergroße Scheibe das Feuer auf mich zurasen, immer schneller. Hörte das Knistern und Knacken. Fühlte Angst in mir wachsen, lähmende, bleierne Angst, in mir, tief in mir, tief, tief.

Stille.

Auf Stille folgt Schweigen.
Auf Schweigen folgt Schweigen folgt

Stille.

- Wir werden hier keine Kiefern, keine Tannen pflanzen. Nichts dergleichen. Das verspreche ich Ihnen. Sie können mir trauen. Ich bin zufrieden mit der Birke, die am Rande unserer Gräber steht. Liebe ihr leichtes Schattenspiel, das Verse schreibt. Verse für die Seelen. Manchmal sitze ich hier und schaue einfach zu und lausche. Über Stunden, lange Stunden. Dann höre ich Sarah leise brabbeln. Auch wenn sie schon sprechen konnte, brabbelte sie so gerne. Ja, so gerne. Im Brabbeln formte sie Wörter. Wörter, die sie gerade aufschnappte, die sie noch nicht kannte. Und Wörter, die keiner kannte und kaum einer aufgriff. Die allein schon deshalb in Vergessenheit gerieten. Die nun mit ihr verschwunden sind. Für immer und immer und. Johanna weint.

- Manchmal, es klingt wahrscheinlich merkwürdig, da weine ich für immer. Da gleitet mein Leben zu Sarah, wo immer sie gerade ist. Da wird die Welt dann ewig. Da bleibt die Zeit für immer. Da bleibt für immer der Moment. Kein Tun, das ihn in Frage stellt. Kein Machen, das die Ewigkeit kippt. Kein Handeln, das den Frieden stört. Kein Ich, das mir gefährlich wird. Mir und Sarah.

- Was halten Sie von einem Ginster zwischen unseren Gräbern? Wenn er im Frühjahr seine Triebe über die Grabsteine wirft, schmücken seine Blüten den Text, untermalten ihn. So kommt der Schriftzug auf den Steinen zum Tragen, leuchtet uns an während wir hier sitzen und. Vielleicht doch lieber nichts gemeinsam pflanzen. Vielleicht ist es zu viel.

- Zuviel von was? Johanna dreht sich zu André. Verschwommen sieht sie in ein gütiges, ein trauriges Gesicht und legt die Hand auf seinen Arm. Impulsiv. Erschrocken zieht sie ihre Hand zurück und wendet sich dem Grab ihrer Tochter zu.

Sie schweigt.

- Alle sagten mir, mich treffe keine Schuld. Immerhin sei der Fahrer des Kleintransporters auf mich drauf gefahren. Es sei erwiesen, dass ich das Tempo richtig hielt, dass ich den Stau zur rechten Zeit erkannte, dass ich bremste, auch die Warnlampe betätigte. Nicht meine Eile, Hektik, meine Nervosität sei Ursache gewesen. Ihn treffe die Schuld, er habe für einen Moment nicht aufgepasst. Einen klitzekleinen Moment, der reichte schon aus. Er sei derjenige, der unkonzentriert gefahren sei. Er habe unter Zeitdruck gestanden, musste liefern, bekam noch weitere Anweisungen von seinem Chef, er möge jenes noch, und ob er auch an dieses gedacht habe.

Sie schweigt.

Was hätte ich tun können? Wie hätte ich ihn zur Ruhe bringen können? Was hätte ich machen sollen, dass er mitbekommt, was vor ihm passiert? Wir hatten doch noch immer das Schild Baby on board an der Heckscheibe kleben ...

- Mir sagte man, es sei Schicksal. Mein Schicksal. Denn auch ich hätte mich entscheiden müssen. Irgendwann habe ich mich losgerissen und bin aus dem Haus gerannt, den Rettungskräften entgegen. Meine Frau, meine Frau … Ist sie noch drinnen, fragte man mich. Ich schüttelte mit dem Kopf, nicht wissend, noch immer nicht, ob es ein Ja oder ein Nein bedeutet hat. Um mich herum, in mir, wurde es dunkel, eine dunkle Seele ...

Mit weiten Augen drehte André seinen Kopf, als wiederhole er die Szene.

- Ja, Schicksal ist ein schönes Wort. Ein Sack, der alles nicht Lösbare, nicht Erklärbare, nicht Verkraftbare verstaut. Nur, hinterher können wir nicht mehr so weiter machen wie zuvor. Dann kommen die Fragen. Beständig dringen sie in mein Leben. Viele kann ich beantworten oder verscheuchen, doch früher oder später kommt das Warum. Gleich einem Schlagbaum in der Landschaft versperrt es mir den Weg.

Sie schweigt.

- Was wäre, wenn ich mir mehr Zeit gelassen hätte, wenn ich gesagt hätte, ich habe noch eine vierjährige Tochter, die ich noch unterbringen muss und die ich nicht auf Zeit trimmen kann. Was wäre, wenn ich den Auftrag statt meine Tochter aufs Spiel gesetzt hätte. Was wäre dann?

- Dann wären Sie früher oder später arbeitslos und hätten noch weniger Möglichkeiten, für ihre Tochter zu sorgen. Wenn Sie schon „Was wäre wenn“ fragen, dann sollten Sie das Große und Ganze im Blick haben. Was wäre wenn wir anders lebten? Kein überbordendes Verkehrsaufkommen, kein menschenfressenden Arbeitsdruck, kein Anheizen des Klimas, keine Ausbeutung der Natur. All das.

- Und Sie meinen, dann würden keine Unfälle mehr passieren, keine Naturkatastrophen uns heimsuchen? Dann verhielten sich alle konzentriert, sachorientiert, entschieden das Richtige? Dann gäbe es keine Seelennöte mehr? Das meinen Sie?

Johanna hebt ihre Stimme und fuchtelt mit den Armen. Dann hält sie sich die Ohren zu.

- Nein. Nein, nein. Nein. Ich höre ihn noch. Ich höre den lauten Knall und dann den … den spitzen … den grellen … den kurzen, den überaus kurzen Aufschrei meiner Tochter … und dann die Stille. Grabesstille.

Sie schweigt.
Beide schweigen.

- Diese Stille höre ich. Höre sie jeden Tag.

- Ich möchte Ihnen nächsten Donnerstag Haselwurz mitbringen. Darf ich? Ihr dunkles, kräftiges Grün ihrer Blätter, ihre leuchtend blauen, ja fast dunkel fliederfarbenen, Blüten sind eine wunderschöne Antwort auf das Rot Ihrer Astern. Rund und satt. Inspirierend. Der Haselwurz wächst und vermehrt sich. Von alleine, will ich mal sagen. Er breitet sich aus, wie es ihm gefällt, findet Wege und bildet ganze Landschaften. Er wächst über die Ränder der Gräber über den Weg zur Wiese unter Bäumen und weiter in den Horizont. André breitet seine Arme aus und zeichnet einen wachsenden Raum.

Beobachtend lehnt sich Johanna zurück, lauscht seinen Ausführungen, verliert sich in der warmen Stimme, die immer leichter wurde, je tiefer ihr Ton anschlug. Ein Widerspruch. Ein Reiz. Eine Herausforderung. Wohl auch ein Risiko. Wie viel Verletzung in ihm schlummert, fragt sie sich, nicht ihn. Noch nicht. Wir sollten weiter, antwortet er ihr in Gedanken, nicht sich. Noch nicht. Vielleicht.


Tränen in meiner Hand
I

Als ich das Krankenzimmer betrete sind ihre Augen verschlossen. Leise setze ich mich auf den Sessel neben der Tür. Will nicht stören. Mag nicht näher auf sie zu gehen. Habe Angst, sie zu verletzen, Angst, sie werde mich zurückweisen, abstoßen. Die Arme unter der Decke liegt sie ruhig auf dem Rücken. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich. Leicht. Leicht und friedlich liegt sie vor mir. Erstaunlich. Mich wundert mein Erstaunen und ich frage mich, was ich erwartet habe: ein Monstergesicht, eine wutschnaubende Furie, Hysterie pur?

Gott sei Dank liege sie allein auf dem Zimmer, hatte mir die Schwester zugeflüstert. Bis eben noch habe neben ihr eine Terminierte gelegen, die nun entlassen sei. Jetzt schlafe sie. Ich könne rein, solle aber vorsichtig sein, vielleicht ihr mit Abstand begegnen, sie besser nicht anfassen. Vor allem brauche sie Ruhe. Nachher komme die Visite und dann werde man mir alles erzählen - Sie sind doch mit ihr verheiratet, oder? Dann schloss sie die Tür.

Nun bin ich mit Hannah allein und Hannah mit mir. Endlich sind wir allein. Doch: Nein. Wir sind nicht allein. Nicht mehr. Hannah ist nicht mehr allein. Mit sich. Mit mir. Und: Wir werden auch in Zukunft nicht allein sein. Nie wieder.

Ich sehe Hannah, sich aus ihrem Körper erhebend auf die Bettkante setzen. Mir den Rücken zugewandt. Sperrige Zotteln zerzausten Haars tänzeln auf ihrer Schulter. Vom Kopf abstehend verklebte Locken. Verloren. Sie stützt sich mit ihren Handkanten ab, drückt sie fest in die Matratze, als sage sie: hier bin ich, du wirst dich meiner erinnern. Du wirst mich im Nachthemd voll Garten erinnern. Wie ich mit Nachdruck entschieden die unentschieden blau-gelb-roten Blüten auf grasgrünem Grund durch den Raum trage. In dein Gedächtnis wird sich Stoff aus feiner Baumwolle, verziert mit rosa Spitzen an Kragen und Stulpen, Stoff, der formlos von meinen Schultern hängt, in dem ich verschwinde, der wird sich in dein Gedächtnis einprägen. Genau der.

Vor mir sitzt eine Hannah, die unauslöschlich das Nachthemd von heute Morgen trug. Als würde der Wecker erst noch klingeln und sie sich umdrehen und ihn ausschalten, in ihrer schwerfällig ungelenken Art. Umständlich. Dann würde sie, schnell und schleppend zugleich, aus dem Bett steigen und, um mich nicht zu wecken, davon schleichen. Trotzdem würde ich ihre Schritte hören und wacher werden, denn sie würde nicht von ihrer Eigenart lassen, ihren rechten Fuß hinterher zu schleppen. Ein wenig trotzig. Ihr Rücken, unscharf in den Konturen, verschwindet im Bad. Dort: Wasserrauschen, Stille, das helle Sägen ihrer Zahnbürste. Eine elektrische, denn darauf hatte sie bestanden. Es ginge schneller und überhaupt. Noch über ihr Zähneputzen vorm Frühstück sinnierend würde das Zuziehen der klemmenden Haustür schrammen. Die Blutabnahme! würde mir durch den Kopf schießen, ach ja, das ist es, und ich würde mich umdrehen und weiterschlafen.

Dann der Anruf und die trockenen Worte des Polizisten: Ihre Frau hat eine Anzeige wegen Vergewaltigung erstattet und befindet sich in der Untersuchung. Anschließend kommt sie ins Krankenhaus Mariahilf, wo Sie sie besuchen können. Schon wurde aufgelegt.

II

Warum hat sie nicht die Straße genommen? Warum durch den Park? Warum musste sie sich in Gefahr bringen, hat es darauf ankommen lassen? Warum, warum, warum. Ja, die Strecke ist kürzer, aber hätte sie nicht früher aufstehen können? Immer verhuscht, in chaotischer Eile. Jeden Morgen. Dann hat sie sicher auch noch das kurze Lila übergeworfen. Auf die Schnelle ohne nachzudenken. Das Kleid für Niklas Party, seinen runden Geburtstag, den er so richtig groß feiern wollte. Extra! gekauft. Nicht nach meinem Geschmack, so mit an die hundert Leute, gemieteten Raum, DJ und allem Schnick-Schnack. Ich mag's 'ne Nummer kleiner. Aber Hannah fährt völlig drauf ab. Schon seit Tagen kennt sie kein anderes Thema. Wie er den Raum gestaltet haben wird, welche Musik, Essen und welcher Wein. Welcher Wein! als wäre sie eine Weinkennerin. Und natürlich, wen er noch eingeladen hat. Was die anziehen, vor allem die Frauen, und überhaupt die Stimmung. Immer wieder Thema. Zuletzt hatte sie sich dieses Kleid gekauft.

Es steht ihr gut, verdammt steht es ihr gut. Ein echter Hingucker. Zuerst war ich ja noch nicht so, da dachte ich puh, ob sie darin aussieht, als sie mir am Handy Lila sagte. Dann kreuzte ein kurzes Ja meine Gedanken. Damals. Ja, echot es in meinem Kopf. Noch einmal halte ich sie fest. Fest, wie jenen Abend, als mir das betörend dunkle Violett mit weit geöffneten Armen entgegensprang, als tief grüne Augen ein versteckt herausforderndes Na? funkelten.

Die Farbe bringt dein Gesicht frappierend zur Geltung, gab ich ihr hilflos zu verstehen. Trotz deiner aschblonden, chaotischen Haare. Gerade wegen der, warf sie mir schnell ihre Entscheidung unterstreichend hinterher und drehte sich aus der Umarmung. Eine Pirouette, ein flatternder Rock.

Verschämt blieb ich stehen, denn es passte. Alles zusammen, die Farbe, der Schnitt, die Betonung ihrer kleinen handvollen Brüste, die Länge, nicht gerade kurz aber doch, das Spiel um ihre Hüften. Einfach alles. Und endlich mal uni und nicht die üblichen Karos, Streifen, Punkte, wilden Muster oder Blumen, eben keine Tapete. Ein Geschmack, den ich ihr nicht hatte austreiben können. Endlich uni und gleich violett und gleich packend. So yes. Ein Anfang hätte es sein sollen.

Warum nur, warum hat sie heute Morgen keine Tapete getragen. Dies Kleid, das wird sie nie wieder anziehen. Nicht einmal mir zu Liebe. Wie auch das Mir zu Liebe vorbei ist. Anstelle ein Abwiegen und Zögern, am Ende ein Nein. Kein Tanz, kein Dreh, vom Kleid geführt, kein Flattern, Beugen, Rutschen. Kein Versprechen. Vorsicht, nur Vorsicht. Verbrannt. Ja es ist verbrannt! Ob du mir nun zuhörst oder nicht, Hannah, ob du mich überhaupt verstehen kannst, oder nicht. Egal. Ich sage dir, du wirst es nie wieder anziehen genauso wenig wie ich mit dir in diesem Kleid auf die Straße gehen werde. So ist es nun. So. Genau. So.

Eigentlich bist du alt genug, um zu wissen, dass man solch ein Kleid am Abend anzieht. Rein ins Taxi, raus zur Party und so auch wieder zurück. Verschärft gekleidet durch den Park geht gar nicht. Und kaum gekämmt, wie gerade aus dem Bett gekommen, warst du doch eine Einladung. Für jeden. So offensichtlich, das musste ja so kommen. Herr Gott, das weiß man doch als erwachsene Frau. Scheiße, du bist immer so unbedarft, furchtbar naiv, so nicht der Situation entsprechend. Willst du einen testen, oder was? Was willst du?

Was bist du schnell zu faszinieren. Die Szene, Events, neue Leute, immer neue Leute, das Rauschen der Masse. Der Anlass, egal. Die Uhrzeit, egal. Die Begleitung, egal. Und nun? Was wird nun? Was kommt jetzt? Gibt es noch eine Steigerung oder hast du deine Lektion gelernt? Und ich? Welche Rolle werde ich in diesem miesen Stück spielen. Zukünftig. Wird es das noch geben? So etwas wie Zukunft? Ich kann mich doch nicht schützend vor dich werfen, dein ständiger Begleiter werden. Kann ich nicht. Oh mein Gott. Aufs Land ziehen, oder in eine Kleinstadt. Dort, wo man sich kennt. Wo du … ach was.

III

Umbringen. Ich möchte den Mann umbringen, ermorden. Er-Mor-Den. Den-Er-Mor. Mor-Den-Er. Er-Mor-Den. Dieses Wort wiederholen. Deutlich. Immer und immer wieder holen und immer und: Mein Zorn. So sieht er aus. Diesem Mann sein Leben nehmen. Vollen Willens. So wie er meins kaputt gemacht hat, wie Hannahs zerstört ist.

Sie ist meine Frau. Meine! Hast du gehört da draußen, du irgendwer im irgendwo? Meine Frau. Sie gehört mir! Verflucht seist du. Mir, mir. Mir, mir … Warum, warum dringst du ein in unser Leben? Was hat dich berechtigt? Dich getrieben? Warum nimmst du nicht deins? Dein wahrlich getriebenes. Zerhacke es. Ach.

Ich kann dich mir nicht vorstellen. Wie du aussiehst, was du anhast, wie du riechst. Wahrscheinlich stinkst du. Bist Raucher und Alkoholiker. Und deine Hände? Hände, die sich anderer bemächtigen, an ihnen fummeln, grabbeln, schmerzen, würgen. Du Arschloch, du absolutes Schwein. Nein, Schweine sind viel zu sensibel. Und selbst ein Arschloch hat noch seinen Wert. Du bekommst keinen Vergleich, keinen Namen.

Ich werde dich auslöschen. Dein Gesicht, deinen Körper. Ja, ich lösche dich, du etwas, das ich nicht kenne und das doch existiert. In allen Winkeln dieses Raums, in jedem Atemzug, im Körper meiner Frau, die Hannah heißt. Im Gegensatz zu dir hat sie einen Namen. Höre ihn dir an. Den Namen, der für alle Ewigkeit bleibt und mit ihm der Mensch: H-a-n-n-a-h. Sie wird, sie soll präsent bleiben. Nicht du, das will ich nicht. Bevor ich dir ein Antlitz verleihe, schüttele ich mich, wische dich von meinem Körper, von dem Stuhl, auf dem ich sitze, atme dich aus und putze die Luft. Ich kappe die hochschnellenden Bilder, die unweigerlichen, bevor ich dein Antlitz umbringe. Denn auch das sei dir nicht gegönnt.

IV

Mir wird übel. Das Bett, in dem Hannah liegt beginnt sich zu drehen. Sie droht herauszufallen, zu stürzen. Mit meinem rechten Daumen und Zeigefinger kneife ich meinen Nasenrücken zwischen den Augen zusammen, kralle meine linke Hand an der Armlehne fest. Gelähmt bleibe ich sitzen. Sitzen bis Zweifel an den Knochen nagen. Bis sie beginnen, ins Stammhirn zu kriechen, sich dort fest zu beißen. Mich zwingen. Schlagartig fühle ich mich alt. Spüre meine eingefallenen Wangen, denke sie mir aschfahl. Zeige nur noch matte Zähne. Trockene Augen, die schmerzen. Und immer wieder kreiselt die Frage nach dem Warum und danach, wer sie ist, die ich meine Hannah nenne. Getrieben.

Sukzessive brechen Teile aus meinem Selbstbild, hinterlassen schwarze Felder. Mein Ich wandelt sich in ein Sieb. Torkelnd. Unwillkürlich ziehe ich meine Beine hoch, presse sie an meinen Körper, forme meine Hände zu einer Schale, in die ich mein Gesicht lege. Mit einem tiefen Schluchzen kommen die Tränen, über und über. Wütend zornige werden verlorene, wechseln zu versponnenen, traurigen, zu warmen Tränen. Werden zu meinen.

Herr Mathiesen, können Sie mich hören? Möchten Sie etwas zur Beruhigung? Eine kleine Hand spendet meiner linken Schulter Wärme. Ich hebe den Kopf und schaue mit verhangenen Augen in das Gesicht der Schwester.

Wo ist die Kleidung meiner Frau?


Rückwärts kommt mir keiner entgegen

Die letzte halbe Stunde bog ich in die Dämmerung. Schon seit sechs Uhr früh gehe ich durch die Stadt. Gehe und gehe. Vielleicht weiter und zurück.

Vor mir das Auto. Es bremst mich aus, fährt ungewöhnlich langsam. Ich kann nicht. Kann nicht überholen. Die Straße ist eng. An dieser Stelle und anderer. Parkende Autos belegen die Fahrbahn, ziehen eine Linie zum Fußweg. Auch dieser, so schmal, so schmal, eingehegt von hohen, alten Bauten verziert mit Ornamenten und Balkonen. Der Gehweg bietet nur den Rädern Platz. Schnell und schweigend in Kolonne kommen sie von hinten, huschen an mir vorbei, um mich herum und weiter. Denn sie meiden das Kopfsteinpflaster der Straße. Also weiche ich aus, gehe weiter auf der Straße, hinter dem Auto, das. Gepolsterte Schuhe verbinden mich mit der Welt. Leibhaftig.

Die Räder drehen auf der Stelle und ich tripple. Von hinten schiebt uns die Nacht zur halben Kreuzung, wo nebelfeuchtes Warnlicht weite Wellen schlägt. Am Ende schiebe ich schwarze Punkte zu geometrische Formen. Blinzele dem abbiegenden Auto hinterher, bleibe ohne Gruß, vor mir dehnt sich die Kreuzung zu einem Trapez. Keiner, der sie überquert, kaum ein Auto, das vorbeizieht. Nur die Räder kommen aus der Straße, lösen die Kolonne auf, verbreiten und verteilen sich und fahren und weiter und schweigen. Und immer der Straße nach und immer den Anderen hinterher und immer stur nach vorne. Und kommt der eine, fährt der andere, und immer noch, und einer noch. Jetzt fädle ich mich ein und halte Schritt und nochmals. Nur, heute ist es zu spät und morgen wird es zu früh sein. So lasse ich sie fahren, lasse sie gleiten, auf und davon. Ich falle zurück bis ich bin. Allein.

Gerade aus, gerade aus, Brot zermalmen, gehen, gehen bis zur Brücke, die die Gleise überquert. Der Hauptbahnhof zum Greifen nahe. Vier lange Scheiben noch, dann kommt der Bus. Fährt Richtung Bahnhof ohne Gäste, die zu zählen schwer mir fällt. Plötzlich ein Schmerz durch Mark und Bein. Dicht hinter mir, sehr dicht, sticht eine Frau ihren Stöckelschuh in meine Hacke. Blicke zischen auf, erschrocken böse. Kurzes taxieren. Dann springen wir im hohen Bogen voneinander. Vorsicht! raunzen wir. Ich sehne ihr nach. Zu lange.

Mittags strahlt die Frühlingssonne. Mittags ist der Himmel blau. Mittags fehlt der Dunst, die Luft ist klar und rein. Die Stadt fällt mittags aus dem Rahmen, spielt jetzt das Spiel der Romantik. Ich atme tief dem Wind entgegen, sehe das erste Grün, das sich am Boden schlängelt, aus den Asphaltspalten sprießt. Forsythien ranken über Mauervorsprünge voll in Blüte, kriechen durch Zäune, die die Grundstücksgrenzen notdürftig markieren. Löwenzahn, Butterblumen, Gänseblümchen und Vergissmeinnicht wachsen über Vorgärten hinaus auf den Gehweg, weiter über die Straße zu anderen Seite. ein Teppich voller Blumen. Alles kommt hervorgekrochen, entfaltet sich und singt. Das Leben blüht, wenn der Mensch. Ich staune. Skeptisch.

Streng in Reihe. Stadthäuser, die Ordnung versprechen, mit Gewissheit aufwarten. Ein Zeichen vergangener Tage, das mich tragen wird. So will ich es, bewusst und festen Schrittes. Ein Fuß vor dem anderen, schreibe ich Geschichte neu. So sage ich es mir. Nur die Füße fangen an, zu galoppieren. Wollen nicht stehen bleiben, nur nicht. Nicht Verharren, nicht Verwurzeln, es könnte böser kommen. Ausgebremst getrieben laufe ich um die Zeit, dem Raumverlust entgegen. Fliehend stolpere ich in den Tanz. Erst die Augen, rechts, links, rechts, dann die Hände schlagen auf die Schenkel, meine Hüfte wippt, weiter und schneller, mein Kopf stimmt in den Rhythmus. Voll spielt das Orchester auf. Die Zuhörer rufen: Bravo! Gestern.

Am Horizont ruht das Café, das nun geschlossen unerbittlich schweigt, wie das zwei Häuser weiter und zwei weiter und zwei. Schüchtern fleht das Schild um sein Hals: Ich bin ein Lieblingsort. Der Tee kommt aus der Thermoskanne, gegen vier ist sie leer. Hier draußen füllt sie sich nicht nach. Dieser Tag geht durch mich durch und kommt nicht an. Seltsam.

Am Fuß des Parks endlich die Menschen. Menschen, die ich suchte, sie spazieren. Die einen da, die anderen dort, mal zu zweit, oft allein. Allein hängen ihre Schultern, ernst und traurig. Zu zweit fällt Lachen leichter. Doch gemeinsam sind wir still, überlassen das Zwitschern den Vögel. Allein auf dem Pfad der Zukunft, einsam vielleicht. Ein Mann mit Stock und Hut in einem hellen Leinenanzug stolziert verirrt im Jahrhundert des Weges. Unausweichlich laufen wir aufeinander zu. Ein kurzes Nicken, ein Tippen an der Hutkrempe, in gebotener Entfernung ein Gruß. Eine Offerte, vielleicht. Ein Hauch von Nähe, von erlaubter, gewiss. Lächelnd weiche ich aus. Der Slalom beginnt. Am Ende stehe ich mit leeren Hände da und begreife. Derweil strecken hinter dem Hügel sich Altbauten dem Sonnenaufgang entgegen. Die Kirchenuhr schlägt sechs Uhr früh.

Draußen hämmern pausenlos die Medien.


Zwischen Bildern

Do you mind?

Ohne aufzusehen, rutschte Anne zur Seite. Auf ihren Knien aufgeschlagen der Prospekt zur Turner Ausstellung, vor ihr, an der Wand, zwei für sie unbekannte Gemälde des Künstlers. Eines Künstler, dem sie sich seit ihrem Studium der Kunstgeschichte in Hamburg eng verbunden fühlte, dessen Bilder sie damals, damals vor ihrer Tat, getröstet hatten, die sie nun verunsicherten.

“The Sun rising through Vapour“ beschrieb einen Sonnenaufgang an einer Meeresbucht, in deren Vordergrund rechter Hand Menschen ihrer Arbeit nachgehen, während linker Hand, versetzt nach hinten, Fischerboote mit eingeholten Segeln, nun Schiff klar machen, und ein wenig nach rechts verschoben, noch mal versetzt nach hinten, ein Kriegsschiff vor Anker liegt, das von einem hinteren Segelschiff gekreuzt wird. Eine halb verschlafene Welt, in der sich die Sonne anschickt, diese zu wecken, dieser verspricht, sie über den Tag zu tragen. Wie sehr die Sonne das Ensemble berührt, schlug Anne in ihren Bann, mehr, viel mehr als „The St Gotthard Road between Amsteg and Wassen looking up the Reuss Valley“ daneben. Auf diesem zeichnete Turner linker Hand, eingeschlagen in den Berg, die Serpentine zum St. Gotthard, auf der in der Ferne Spaziergänger, entlang einer nach rechts verlaufenden Schlucht, die zudem von einem rechts kommenden Alpenzug gerahmt wird, bei durchwachsenem Wetter flanieren. Irgend etwas störte sie an diesem Bild, etwas von dem sie noch nicht wusste, was es war. Etwas, was sie beklemmend aufputschte.

I have got swollen feet.
Turner always went outdoors to sketch, in order to catch the landscape precisely. Therefore he stood for hours at a point, gab Anne zur Antwort.
Sorry I have been walking the whole day long, sagte er und massierte seine Waden. Mainly in summer, ergänzte Anne unbeeindruckt, in the winter months he painted in the studio. I suppose, he was a renowned painter. I am impressed by the exhibition. Guess this collection belongs to the Tate, schickte er hinterher.
So do I. He used to be one of the most famous painters of the Romantic Period although he was been treated hostile by critics, at least for a while. Listen: „Although their attacks did not go away, Turner’s critics made little lasting impact, and he grew used to and even courted controversy.“ It seems, that was the way it had been worked out. The controversy had strengthen himself. Excuse me, I wonder if you are coming from Germany. Your accent …
Yup. Turner was born in 1775 in London, where he died too, in 1851. Actually his full name was Joseph Mallord William Turner. Have a look at the picture in front.
Ich komme auch aus Deutschland.
Oh, waren Sie in der Turner Ausstellung in Berlin 1972?, fragte Anne ohne Würdigung eines Blickes.
Nein. Sie? Sie scheinen, sich auszukennen …
Schauen Sie sich dieses Bild an. „The Sun rising through Vapour“. Von wann ist das?, sie beugte sich vor, 1809? Ja?
Mhm, ja, er machte es ihr gleich, rutschte mit seinem Gesäß nach vorn, dem Bild näher, sich in dies vertiefend.

Genial. Dieses Gemälde stellt für mich weit mehr als einen Sonnenaufgang dar, ist weit mehr als ein Bild. Diese Sonne währt ewig, in die kann ich für immer gucken. Und wissen Sie warum? Weil Turner sie im Zentrum fast weiß gemalt hat. Drum herum, den Hof, den hat er gelb durchsetzt. Mit einem warm-satten Gelb, ocker, Honig … nehmen Sie, was sie wollen. Der Hof, der Himmel ist auch nicht wirklich gelb, er hat ihn mit blau durchwebt, etwas schmutzig, so, auf diese Weise … aber, wenn Sie lange genug auf den weißen Punkt schauen, dann fängt die Sonne, zu scheinen an, und alles wird gelb und gelber. Sie können das …, Anne drehte sich zu ihm, aufgeregt, kniff ihre Augen zu, … Sie können das intensivieren, wenn sie Ihre Augen schließen, fast, meine ich natürlich, also einen kleinen Spalt müssen Sie auflassen, dann sehen Sie die Farben richtig, erst richtig gut … dann strahlt der Himmel … hach ja … ich muss mal was ausprobieren, warten Sie mal …
Ja, das stimmt, sein Kopf näherte sich mit zusammgepressten Augen dem Bild, das ist ja
unglaublich …
Nicht wahr?
Ja. Das hätte ich nicht gedacht.
Das ist ein Trick.
Ach … aber auch ohne Trick, auch mit geöffneten Augen, ist es schon phänomenal, wie das Licht wirkt. Dass ein Artefakt, ein Bild, in mir einen Himmel evoziert, als wäre dieser um mich herum. Er drehte sich zu Anne. Was machen Sie denn da?
Ich teste die Sonnenbrille. Nein, quatsch, ich teste, wie das Bild mit Sonnenbrille wirkt. Ob diese mich genauso schützt wie draußen. Sie müssen wissen, mein Tag war brandheiß …, Anne fing schallend zu lachen an, warf ihre Hände vor das Gesicht und schüttelte sich, … nein das ist zu komisch. Gucken Sie mich an, ich habe einen mordsmäßigen …, Anne fing erneut zu lachen an, hörte dann schlagartig auf, … was mir für Worte einfallen, entschuldigen Sie bitte. Ich habe mir einen Sonnenbrand zugezogen, vielleicht habe ich auch einen Stich. Lautlos nahm sie ihre Brille wieder ab.

Aber nein, Sie sind, wenn ich das so sagen darf … ich finde Sie normal. Sehr engagiert … hier. Diese Bilder sind ja auch betörend. Sehen Sie das vom Gotthard, weiter rechts? „The St Gotthard Road between Amsteg and Wassen looking up the Reuss Valley“? Da muss man ja befürchten, mit dem nächsten Schritt abzurutschen und von der Schlucht verschlungen zu werden.
Na, man fällt schon nicht so leicht, und wenn doch, blieben Sie im Bild, fallen nicht aus dem heraus … und für den Fall der Fälle halte ich Sie fest”, schmunzelte Anne.
Nun, zugegebenermaßen, der Pfad ist breit, verjüngt sich erst in der Tiefe. Da werde ich wohl nicht so schnell fallen, lächelte er. Bei diesem Bild bezaubert Turner einen erneut mit seiner Beschreibung des Lichts. Trotz des nicht gerade schönen Wetters gelingt es ihm, den Pfad vorne zu erhellen, als wäre er erwärmt. Das macht diesen so offen, breit, einladend … macht ihn eher zu einem Weg, einem, auf dem ich wandeln möchte.

Genau. Sie fallen nicht, weil Sie in dem Bild spazierengehen. Tatsächlich bewegen Sie sich in ihm, können eigentlich nicht fallen. Bewegung ist das ganze Leben … ich meine, das ganze Leben ist Bewegung … o.k., das ist nicht wirklich neu …
nein …
… neu war, dass Turner es erreicht, Ihnen das Geühl zu vermitteln, sich in seinen Bildern zu bewegen und nicht an einem Punkt zu verharren. Er holt Sie in das Bild. Damit sind Sie kein externer Betrachter mehr. Trotz der Zweidimensionalität des Bildes und dessen Fixierung von einem bestimmten Ausschnitt der Landschaft, erweckt er Sie zum Leben, bringt Sie in Bewegung, wenngleich Ihr Körper hier, neben mir, ruhig vor sich hin lahmt. Hier, so neben mir, sind Sie ja eher statisch … Au, das schmerzte, schnitt ins Fleisch. Ihr Sticheln tat Anne weh, ziemlich. Es tat ihr Leid. Wie ungeschehen, fügte sie schnell hinzu … will sagen, Sie bewegen sich und bewegen sich nicht.

Interessant, Ihre Betrachtung … Haben Sie bei Ihrer Auslassung bemerkt, dass ein Teil der Dynamik auch der verschobenen Symmetrie geschuldet ist? Der Berg, der Hang, der Weg fallen von links in großen Stufen in die Mitte des Bildes. Dort befindet sich der Abgrund, das Dunkle, eigentlich das Ende. In der Mitte, also das Ende … das sprengt schon Sehgewohnheiten, auf jeden Fall wohl sprengte es sie damals. Denn im Barock schrieb man die offensichtliche Symmetrie groß. Sie wurde zum Inbegriff aristhokratischer Ästehtik, Ausdruck aristhokratischer Macht. Denken Sie nur an das Schloss von Versaille, aber auch der Buckingham Palast … obgleich Barock ja auch in seinem Hang zum Runden, Selbstbezüglichen … Entschuldigung, ich verlaufe mich gerade … Sie müssen wissen, ich bin ein Fan von Bach, sagte er und setzte sich auf der Kante der Bank in aufrechte Position, sich Anne zuwendend, Sie sind Kunsthistorikerin? …
Sie meinen?
Entschuldigen Sie, er holte Luft, wie gesagt, ich verlaufe mich gerade.
Eigentlich nicht. Nein, ich habe das Studium abgebrochen. Ich wollte nicht länger die Bilder, meine Freunde, einer ständigen Beurteilung aussetzen. Ich vertiefe mich gerne in sie, mehr nicht. Auf eine Weise sprechen diese mit mir, auch wenn keiner mehr redet. Vor allem dann, wenn es still wird und ich alleine bin, kommen sie, die Bilder. Sie kommen aus der Tiefe, wie von selbst, oder ich hole sie mir, aus dem Schrank, aus der Erinnerung. Dann lege ich mich in sie rein, gehe in ihnen auf … Entschuldigen Sie bitte vielmals meine Störung. Ich wollte mich nicht aufdrängen.
Nein, das tun Sie nicht. Heute schmeckt alles anders. Heute sind sie störrisch, die Bilder. Heute mahnen sie mich, fordern mich auf eine vertrackte Weise heraus, mich mit ihnen zu beschäftigen, ästhetisch, historisch … vielleicht sollte ich das Studium wieder aufgreifen.
Ich glaube, Sie verwirren mich, antwortete er leise, ein wenig auf Abstand gehend.

Und?, nahm Anne den Faden wieder auf, ist es denn so, dass das Verlassen oder Aufbrechen der Symmetrie, unsere Sehgewohnheiten in Frage stellt?
Oh, ich sprach von Verschiebung, von „verschobener“ Symmetrie, meinte es zumindest …
O.k., Sie sagten „verschieben“ … aber ist es denn so?, Annes Grauen drängte ins Gehirn, betäubte die Ohren, rückte ihre Gedanken, hin und he, sorgte für Unruhe, innere. Nehmen wir einmal an, ich gehe realiter durch eine Gegend. Dann setzt sich mein Bild der Umgebung aus lauter kleinen, mitunter in Sekunden schnell, aufgeschnappten Eindrücken zusammen. Nicht einer davon wird symmetrisch sein … Wie wird also mein inneres Bild aussehen und wie wird meine Schilderung dessen sein, zum Beispiel Ihnen gegenüber? Ich frage mich, ob das Bild, das sich in mir heraus kristallisiert hat, ob das den Regeln der Symmetrie gehorcht? … Vielleicht, weil mein Gehirn gar nicht anders kann?
Ich weiß es nicht …
Schauen Sie das Bild vom Sonnenaufgang: Turner malte die Sonne nur leicht nach links versetzt zur Mittelachse, so dass ihre Strahlen, beziehungsweise der sonnengetränkte Himmel schräg zur Mittelachse in das Wasser tauchen. Zwar nur ganz leicht aber doch. Was passiert? Ich nehme sowohl das Wasser als auch die Sonnenstrahlen in Bewegung wahr. Tja, Anne schnalzte mit der Zunge, und vorne, im vorderen Drittel, an dem uns zugewandten Fischerboot des Ensembles am Strand, an dem vorbei, sehen wir die Spiegelung, wieder dieses Weiß, das alles leuchten lässt. Wenn ich mich nun …, sie kam mit ihrem Oberkörper hoch und schob den Rücken in einem Buckel nach hinten, … mich nun zurücklehne, verschwindet die Schräge und es entsteht eine Parallele. Die Sonne, der Himmel, das Eintauchen im Meer parallel zur Mittelachse. Fast.

Nein, so nicht. Das Fischerboot durchbricht die Linie, die Sonne bricht ihre Strahlen am Heck des Bootes, ganz achtern. Und … Sie sehen, wie das Kriegsschiff mit seinem Heck leicht rechts verschoben parallel zur Mittelachse liegt und sich dann nach rechts vorne im weiten Winkel erstreckt. Auch hier bricht die Sonne ihre Strahlen, diesmal am Heck des Schiffes. Damit ergibt die bestrahlte Fläche zwischen den beiden Booten, das aufgehellte Wasser, eine Hyperbel. Die Form ergibt sich aus der Rundung des Hecks. Egal wie weit Sie sich zurücklehnen, diese Form bleibt … Und wenn Sie ehrlich gucken, bleibt der Sonnenball auch weiterhin links verschoben zu dieser bestrahlten Fläche. Die Parallele, die Sie sehen, entsteht in diesem Fall nur durch Ihre Manipulation, also in Ihrem Gehirn.
Ja, das stimmt … aber trotzdem … die hellste Fläche liegt in einer Linie mit dem Sonnenball. Diese hellste Fläche ist die meist beschienene, ist sozusagen die Flucht der Strahlen. Die Fläche öffnet sich dann, wahrscheinlich aufgrund der Brechung durch das Fischerboot links, nach rechts hin. Auch die Hyperbel hat etwas symmetrisches, ignoriert man die strukturgebende Kraft des Lichtes einmal.

Ja, es sind diese leichten Verschiebungen, die das Bild in Bewegung setzen. Er verstummte, legte eine Pause sein. Ich kann Ihnen Ihre Frage nicht beantworten, knüpfte er wieder an, ihre Frage, ob das Zugrundelegen von Symmetrie unseren Möglichkeiten im Gehirn entsprechen, oder ob dies ein sehr zwanghafter Zug ist. Da muss ich passen. Aber eine interessante Frage. In jedem Fall vereinfacht es die Betrachtung. Vielleicht im Sinne von Komplexreduktion? Wer weiß … oder im Sinne fraktaler Abbildung … denken Sie an unseren Blutkreislauf oder die Struktur von Blumenkohl oder die Küste von Norwegen, die sich im Detail wiederholt.

Dem Bild vom Gotthard hat Turner die Symmetrie ebenfalls zugrunde gelegt, staunte Anne nun, obwohl in diesem eher die Natur Unheil in sich trägt. Hier schneidet der Weg ganz vorne die senkrechte Mittelachse, nur ganz wenig, oder vielleicht berührt er sie auch nur. Linker Hand tut sich der Berg auf und im oberen Drittel sieht man das Licht reinscheinen. Auch ohne Sonnenzentrum, selbst ganz ohne Sonne, zeigt sich der Himmel, kommt sogar blau über die Bergkuppen, mehr noch, holt von rechts die dicken, schwer-weißen Wolken ins Tal, und hellt dieses von unten, von dessen Ende her auf. Zumindest könnte man denken, dort hinten fällt die Schlucht in die Unendlichkeit der Tiefe. Wahrscheinlich war dies der Sog, der Sie anfangs mitgerissen hatte.
Gut möglich.
Interessant, wie der Weg ausgehend von der Mitte, sich zuerst nach links wendet und in dem Maß, wie er sich verjüngt, wieder rechts über die Mittelachse führt. Beides, das Licht und der Tanz um die Mittelachse, suggerieren Tiefe und Ferne zugleich. Das ist etwas anderes als unser Blutkreislauf oder die Formen des Blumenkohls …

Anne setzte sich ein, für das, was sie sah, wie sie wahrnahm, engagierte sich, steigerte ihr Temperament … Turner spielt mit der Symmetrie, indem er sie immer wieder in Frage stellt und trotzdem deren Macht nicht antastet. Würde er sie antasten, verlöre das Bild an Spannung und Dramatik. Es ist schon schwer genug, überhaupt Menschen in diese Spannung zu versetzen, und er ? Er schafft es mit und in einem zweidimensionalen, virtuellen Fenster! … Damit komme ich noch nicht ganz klar, ehrlich gesagt.
Dieses Können ist doch aber auch Zeugnis von Selbstbewusstsein. Die Stärke und Ruhe, die von der Symmetrie ausgeht, für sich in Anspruch zu nehmen, als Maßstab in den Raum zu legen und dennoch diese, naja, nicht eigentlich sie selbst aber ihre Allmächtigkeit, zu hinterfragen. Das nenne ich Selbstvertrauen auf die eigene Urteilsfähigkeit, auf die Sicherheit des Denkens.
Sie irritieren mich …
Schön, wenn ich Sie affiziere, zwinkerte er … Und sehen Sie, beim Bild vom Sonnenaufgang wiederholt sich das Spiel mit dem Licht rechts, dort hinten am Horizont … Er beugte sich zu Anne und zeigte mit seinem Finger auf das Boot, das kaum bemerkt weit hinten auf einer Woge segelt, angestrahlt vom Sonnenaufgang. Damit, fuhr er fort und ging zurück in seine Position, dass Turner, die Horizontale nicht mittig sondern im unteren Drittel platziert hat, entsteht für mich das Gefühl von Ferne, von Unendlichkeit. Nehmen wir nun die Diagonale nicht von oben sondern von unten links, dann kommt zuerst im Lichtschatten die Sammlung der Boote am Ufer, die Schiff klar gemacht werden, dann die erwähnte Hyperbel, dann das Kriegsschiff und dahinter die Ausläufer des Sonnenaufgangs, die das entfernte Segelboot erleuchten. Ich erkenne darin eine gewisse Periodisierung. Und die ist in sich symmetrisch, verspricht Ruhe.

Ja, wirklich, das ist gekonnt. Trotzdem. Mir fehlt der Tanz, der Schwarm, die Leichtigkeit des Seins, das amorphe Leben. Und hiernach die Risse, Brüche, Abstürze … wie sie überall die Menschen ereilen, gerade auch zu Turners Zeit … gewaltige gesellschafltiche Veränderungen, Versagungen, private Scheußlichkeiten und all das … sozusagen das Tal der Tränen. Sie sollten nicht Kunstgeschichte sondern Malerei studieren, fiel er ihr unvermittelt ins Wort, Sie haben einen Drang, die Welt veräußern, formen, prägen zu wollen … Kunstgeschichte verortet … Ach, ich weiß nicht. Momentan habe ich meine Form noch nicht gefunden. Drifte mal hier, drifte und mal da, drifte hin und her. Dann gehe ich unter, ertrinke in einzelnen Lachen … Mit Chance finden Sie Ihre Form beim Malen selbst, oder?

Sie sind ja nett … richtig bemüht … aber ich muss erst noch einiges klären … für mich … allein …. Wo waren wir? Ach ja, bei den Verwerfungen des Lebens. Nehmen Sie das Bild vom Gotthard, in dem ja Stürze und Brüche thematisiert werden … schauen Sie die geknickten Tannen, deren Stämme zersplittert, zerfasert in die Luft ragen, einem im wahrsten Sinne des Wortes ins Auge stechen, und natürlich die Serpentine, eingeschlagen in den Berg, die einen in das tiefe Tal blicken lässt, oder rechts der Hang vom anderen Alpenzug, der auch ins Tal führt … und doch liegen Ausgangspunkt der Vertikalen, unten am Rand … hier sehen Sie … mit dem rechten Schnitt der Serpentine zusammen. Und enden wird die Vertikale über die Spitze des Berges mit dem Ausläufer der Gewitterwolke. Selbst wenn Weg und Berg um die Mittellinie tanzen, bleibt diese bestehen und halten das Unheil sozusagen gefangen. Es wirkt dadurch dräuend, fast beklemmend. Für mich verstärkt sich dieser Eindruck noch durch die Regen verhangenen Wolken, die von rechts oben sowohl vom Himmel als auch aus dem Tal in das Bild drängen. Was wäre, hätte Turner die Symmetrie aufgelöst, sozusagen dem Unheil seinen Lauf gelassen?

Dann hätte er die Macht der Symmetrie, die Macht der Ruhe und des Friedens, der Macht der Willkür überlassen. Dann würde der Berg, der Weg, der Baum, das Tal, die Wolken um die Vorherrschaft im Bild kämpfen. Das kann, so viel ich weiß, unser Gehirn nicht bewältigen. Und dann würde das Ungeheuerliche passieren. Statt, dass uns durch bewusstes Spiel die Symmetrie uns leite, lenke, animiere, übernähmen geglättete Formen, Überhöhungen, Verschlichtungen diese Funktion. Vom Künstler gewollt oder durch unser Gehirn vereinfacht, sei dahingestellt … Bachs Fuge wäre nur noch ein scheppernder Klingelton. Weder unser Ohr noch unser Auge würde sich mehr in Genauigkeit, Feinheit, in Schönheit der Wiederholung und tiefer Schachtelung schulen. Nur noch grobe Konturen, an denen wir uns längs hangeln könnten, die unser Leben verflachten, vereinheitlichten, egal werden ließen. Grobe Konturen, die willkürlich mal den Berg, den Baum, den Weg, das Tal, die Wolken als erhaben erklärten … Aber ich identifiziere ja einen Berg als solchen, oder was auch immer, weil ich ihn im Detail wiedererkenne, in seiner Wiederholung, im Kleinen, wenn er immer genauer wird. Das müsste das Bild in seiner Wiedergabe beherzigen, umsetzen, thematisieren, … wie auch immer …. Es sind doch die Strukturen, die die Unterschiede aufweisen, die das Gefüge eines Weges von dem eines Berges scheiden … das im Gegensatz zu dem eines Berges nicht erhaben ist … Er schnappte nach Luft.

Und gerade Turner, fuhr er fort, thematisiert das Amorphe, indem er die chaotische Wirklichkeit nachempfindet, die einer Morgendämmerung im Jahre 1809 irgendwo, und uns an seinem Eindruck teilhaben lässt. Schauen Sie, wie er den Sonnenaufgang minitiös nachgezeichnet hat. Wie sich das Gelb in seinen Schattierungen wiederholt, verschiebt, sich mit Weiß durchdringt …, da ist er doch dem Amorphen nachgegangen und zeigt dessen innere Strukturen, dessen Symmetrien. Symmetrien, die aus sich selbst heraus leben und so Bewegung ahnen lassen. Turner hat den Sonnenaufgang nicht gequält, er hat ihn zum Tanzen gebracht. Ein langsamer Tanz, gewiss … doch das entsprach dem Zeitgefühl, dem damaligen … Ohne Symmetrie würden alle Differenzen eingeebnet, das Auge an der Gleichgültigkeit des Dargestellten ermüden, das Tal der Tränen austrocknen und erkalten. Sie kommen nicht drum herum … Auch das Tal der Tränen hat Formen, die, spürt man sie auf, Schönheit, Ruhe und Frieden in sich tragen. Und seien sie noch so klein, sie tragen immer alles in sich.

Im Tal der Tränen sammeln sich genauso auch Fragmente der Naturgewalten, setzte Anne noch mal an, in ihm sind überdies Donner und Geröll zuhause. Wäre es da nicht ebenso möglich, diese Erhabenheit der Gewalt anders als in einer durch die Symmetrie gestauchten Landschaft darzustellen, also gebändigt … die Gewalt selbst … um ihrer Herr zu werden?
Nein, Gewalt an sich ist nicht darstellbar. Genauso wenig wie die Macht hinter dieser. Für mich, ich sehe es so … Was sichtbar wird, was veranschaulicht werden kann, sind deren Formen, Wunden, Narben … Diesen gilt die Aufmerksamkeit, sie mit Präzision aufspüren, hinhören … sonst bekommen Sie ein leeres Blatt, Taubheit und Verstummen. Er fiel zurück, stützte sich mit beiden Armen nach hinten und schwieg.

Was machen Sie beruflich?, durchdrang Anne sein Schweigen.
Ich bin Mathematiker.
Deshalb wohl Ihre Vorliebe für die schöne Form, die Präzision und Wahrheit in der Klarheit. Naja, es geht. Ich verkalkuliere mich gerne. Ich meine, ich habe Fehler gerne, um sie zu entschlüsseln, um zu noch feineren Lösungen zu kommen. Irgendwo habe ich einmal gelesen: Gesucht werde der alles erlösende Fehler … Die schöne Form …, wiederholte er sinnierend, … ach wissen Sie, genau! Die schöne Form trägt beides in sich: Verwundbarkeit und Kraft des Lebens.

Anne folgte ihm, sich abstützend nach hinten lehnend.
Wie heißen Sie?
Ich heiße Jens Cohen.
Cohen?
Mein Vater ist amerikanischer Jude.
Jaaah, quetsche Anne. Jens kam hoch, wandte sich ihr aufrecht zu, sah ihr in die Augen, tief, ernsthaft, lange. Das ist der Moment, in dem Romantik zu Stein verhärtet … oder?


Verloren im Moment. Berlin 2018

Die Ampel schaltet. Von Rot auf Grün, auf Rot, Grün, Rot. An der Bordsteinkante Herr Müller inmitten schlotternd rutschender Stoffhosen, auf die graublau oder lilableiche Jacken stoßen. Ab und an zuckelt ein beherzter Griff diese wieder in den Schritt, wird der Gürtel nachgezogen. Herr Müller schaut ihnen zu so wie er andere taxiert. Andere, die ihre Jeans fest am Körper tragen, dass sich Knochen oder Muskeln oder Fett abzeichnen. Die ihre Geschlechter und Hintern betonen, sich anbieten. Und doch auch nicht. Ikonen des Alltags streifen Herrn Müllers Gesichtsfeld.

Flink zieht eine Frau ihre Hose aus der Ritze, streicht sie glatt, schnell, denn Zeit ist kostbar. Schon springt die Ampel auf Grün, die Menge bricht auf. Prompt. Einprogrammierte Ziele ziehen die Körper auf die Straße, treiben sie zur anderen Seite, wo sie auseinander streben. Wo die einen zur nächsten Ampel biegen, sich hier sammeln und hier ausharren und dann weiter strömen. Wo die anderen die Treppe zur Hochbahn erklimmen, sich mal rechts mal links an den Entgegenkommenden im Laufschritt vorbei schlängeln. Herr Müller steht da und blickt ihnen hinterher. Sieht welche auf sich zukommen, sieht sie biegend, schaukelnd, staksend den Asphalt traktieren, dabei Taschen und Tüten schwenken, sieht ihre Mühen, schnell und elegant hinüber zu kommen, ohne anzustoßen, ohne sich der anderen Blicke zu nähern. Sieht Menschen einander ausweichen und meiden. Nur nicht berühren.

Zu viel der Körper zu viel. Zu harsch die Bewegung. Trotzig trampelnd tragen deren Füße Wut und Trauer ohne Zeit. Im Fluss, im Fluss bleiben, im Fluss. Bleiben. Müssen. Das nächste Rot ist getaktet. Wer es nicht schafft, hat das Nachsehen. Hält alle auf, muss überholt, umgangen werden, bevor man selbst. Menschen strömen an Herrn Müller vorbei. Die einen von hinten, die anderen von vorne. Umschiffen ihn. Ihn, die Staue im Menschenmeer.

Ein Hauch an Ausdünstung streift sein Gesicht. Ein wenig Sphäre, die, kaum wahrgenommen, schon verschwindet. Nur nicht berühren.


Ja, ja, der Herr Müller. Wie gewohnt, sehnt er den Menschen nach. Erhaben und unablässig, als warte er. Frau Schmidt genießt den Ausblick aus dem zweiten Stock, der ihr erlaubt, die Welt fein säuberlich zu sezieren. In sicherer Entfernung. Vor allem hat es ihr Herr Müller dort unten an der Bordsteinkante angetan. Sie mag, wie er so aufrecht steht, die anderen überragt, wie ihn die Schulterklappen seines Trenchcoats stützen, der breite Gürtel ihn hält, wie er die abgestoßene Lederaktentasche fest an seine Brust drückt. Und sein Fasson-Schnitt allen zu verstehen gibt: Nicht berühren. Und seine glänzenden Schuhe im aufgewirbelten Staub des Gehwegs rufen: Aufpassen!

Selten, dass sie ihn im Treppenhaus bemerkt. Lautlos schleicht er runter, vorbei an ihrer Wohnungstür, ihr keine Chance gebend, ihn abzufangen, einmal unverhofft die Tür zu öffnen, ihm einen Guten Tag zu wünschen. Dessen war sie sich sicher. Sehr sicher. Auch aus der Haustür sieht sie ihn nicht kommen. Frau Schmidt wartet. Wartet am Fenster bis Herr Müller an der Ampel steht. Dann huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. In der Regel. Nur in der letzten Zeit kommt er verschwommen daher.

Heute aber, da nimmt sie ihn mit all seinen Konturen wahr. Klar und eindeutig. Aufgeregt und schwärmend. Nur nicht berühren.

Vom Bahnsteig her bohrt sich ein Quäken und Schreddern tief in ihr Ohr. Fragend hebt sie ihren Kopf. Es ist die Ansage, zermalmt durch breites Ächzen. Derweil die Hochbahn einfährt und mit Getöse zum Stehen kommt. Menschen werden ausspuckt und andere eingesogen. Schwerfällig und in die Jahre gekommen buhlt sie im Fünf-Minuten-Takt um Aufmerksamkeit. Selten noch, dass Frau Schmidt der Attraktion nachgeht. Die Drehung im Kreuz macht ihr Mühe, nun.

Heute ist sie nervös. Lässt sich stören, dreht sich um, dass sie den Bahnsteig sehen kann, schaut den Menschen dort zu. Wie sie ins Abteil drängeln und schieben und stoßen, kurz zucken, ein Sorry murmeln, ein Okay, wenn überhaupt. Sie haben Angst, die Plätze sind so rar. Nicht mitzukommen gleicht einer Strafe. Nur nicht berühren.

Seit nunmehr vierzig Jahren wohnt Frau Schmidt zwei Stockwerke unter Herrn Müller in dem Altbau direkt an der Kreuzung. Die letzten Jahre oder mehr lebt sie allein mit ihrem Ohrensessel, ein Andenken an ihren Mann. Mein wertvollstes Stück, flüstert sie ein zwei mal am Tag in des Sessels Ohren während ihre Hände über die Rückenlehne streicht. Ach, will mich nicht beschweren, hatte ein ganz gutes Leben, seufzt sie dann ganz gerne mal. Zunehmend rutscht ihr ein Wir heraus. Wir hatten doch.

Ihr Streicheln, Seufzen nach dem Essen ist zum Ritual geworden. Danach lässt sie sich in ihm nieder, schmiegt den Kopf an die Ohren. Bespickt mit vielen großen, kleinen, bunten Kissen hat der Sessel seinen Platz am Fenster zur Straße. Nun geschlossen, die Gardine zur Seite, träumt Frau Schmidt der Welt nach, die mit der Morgenluft kam, als sie, die Fensterflügel geöffnet, sich auf ihr über Jahre geknetetes Kissen aus abgewetztem Samt gelehnt, Straßenluft einatmete, Stimmen hörte, Autos, Tram und Hochbahn. Der Vormittag ist Weltzeit. Zeit, in der sie Wetter erkundet und Wolken zählt, den Sonnenstand fixiert, Regen bedauert. Es sind die Stunden, in denen sie dem Treiben auf der Straße folgt, Menschen zusieht, ihnen nachschaut und bemerkt, dass welche untereinander vertrauter werden, einander zu ähneln beginnen, und andere, die jünger, gewandter, lauter sind, sich gar nicht ähneln. Ihre privaten Studien. Es sind Stunden, in denen sie Fremde wahrnimmt, die besonders anders aussehen und sich so völlig anders bewegen, ganz andere Töne von sich geben. Fremde Gesten. Unruhig und neugierig, im Moment verstärkt, streift ihr Blick umher, sucht unbestimmt nach dem EINEN Ereignis, bis sie letzten Endes an den vielen ermüdet. Die Ampel schaltet von Rot auf Grün, auf Rot, Grün, Rot. Autos bremsen. Scharf. Nur nicht berühren.


Komm endlich. Unten vor der Haustür zischt Frau Nissen ihre fünfjährige Tochter an. Sie ist in Eile, wie jeden Morgen. Wecker, aufstehen, duschen, anziehen, die Kleine wecken, die spielt schon, sie anziehen – Gequengel - Kaffee aufsetzen, Brote schmieren, Müsli, schnell essen - die Kleine würgt - sie mit den Händen vom Stuhl weisen, Zähne putzen - die Kleine speit - Gummistiefel, Protest, Füße rein quetschen, Arme in die Jacke stopfen – aua, du tust mir weh, selber Zähne putzen - Jacke und Schuhe, Tasche umhängen. Im Kinderzimmer sitzt die Kleine und schimpft mit ihrer Puppe. Komm jetzt. Kaum draußen, lässt sie die Haustür fallen, wirft einen kurzen Blick nach oben.

Immer nur die alte Schmidt, die aus dem Fenster hängt, mir hinterher stiert, registriert Frau Nissen schnell und lustlos als wünsche sie sich was Anderes. Diffus und unbestimmt. Harsch nimmt sie ihre Tochter bei der Hand, greift nach, schon galoppieren beide den Fußweg entlang. Durch die Anderen durch. Irgendwie. Zu Fuß geht schneller als die Hochbahn, zu knapp die Zeit, heute erst Recht, egal. Egal, was ihre Tochter meint, und sie wird gleich meinen, trotzen, widersprechen, weiß Frau Nissen. Und so stiebt sie davon.

Die Füße der Tochter verhaspeln sich wie ihre Sprache, stolpern der Mutter eilend hinterher, bis sie abhebt, ihr Körper an ihrem Arm baumelt, der an der Hand hängt, die fest im Griff der Mutter ist. Die Mutter gibt nach, das Kind hat wieder Boden unter den Füßen bis sie wieder und von vorn. Das Kind hechelt, irgendwie, bis zur nächsten Ecke, wo ihr Quengeln die Mutter zu quälen anfängt. Die Kleine wird den ganzen Weg betteln, jaulen, protestieren, zum Ende nur noch weinen. Hör auf! Mach dich nicht extra schwer. Keine Diskussion mehr. Du gehst zur Kita. Schluss! Aus! Ein Ruf, ein Zerren, die nächste Eskalationsstufe ist erreicht. Frau Nissen kennt diese Litanei so wie sie ihre eigene Antwort kennt.

Und wieder hat sie sich provozieren lassen. Ihren Zorn heraus gebrüllt und nicht, wie von der Familienhilfe geraten, ihr Muster geändert. Vor Wut beißt sie sich auf die Zunge und flucht. Warum merkst du dir nicht den Ablauf, warum willst du immer was anderes. Du hast keine Ahnung von der Eile, der notwendigen, von der über alle Tage schleifenden Routine, über das Austrocknen meiner Sprache, weil wir uns nicht unterhalten können. Was weist du schon, auf was ich alles verzichte. Oh mein Gott, wie eingeschränkt du doch bist und wie wenig bewusst das dir ist, dass ich dir noch nicht mal eine Einsicht abzwingen kann. So zürnt Frau Nissen sich stumm bis ihr Verdruss und ihr Verstummen sie schmerzt. Mit jedem Tag ein bisschen mehr. Nur nicht berühren.


Aahh - Verdammt! Ob die Nissen mal was mitkriegt, mal guckt, was sie tut, irgendwann mal?! Gerade noch kann Herr Lingen den hohen aus Massivholz gefertigten Flügel der Haustür abfangen, ein wenig benebelt von der abziehenden Parfümwolke, die er nicht schlecht, aber als too much empfindet. Herr Lingen liebt das Ausgewählte, Nervöse, sensibel Dekadente, am besten in Kombination mit Präzision und produktiver Unruhe. Nicht immer passt es. Er zählt keine Stunden, er zählt, was er tut. Den Tag, die Nacht, die Woche, den Monat, das Jahr. Und er schafft viel. Sehr viel und noch mehr. Nur nicht berühren. Nur nicht.

Fluchend stößt er mit aller Kraft den Flügel auf, quetscht sich samt Rennrad über der Schulter durch das Portal. Flugs ist er draußen. Hier ist der Gehweg schmal, die Ampel der Fußgänger auf Rot, der Fahrradweg blockiert. Für einen Moment jonglieren, dann, eher flink als hastig, scannen seine Augen die Umgebung, schon ist er auf dem Rad.

Just in dem Moment dreht sich Herr Müller um und stolpert. So ganz aus Versehen, so ohne Absicht. Herr Lingen bremst. Rechtzeitig. Herr Müller stützt sich am Lenker ab und kann verhindern, dass sein Mantel in die Speichen gerät. Gerade noch. Plötzlich ist er mit Herrn Lingen konfrontiert. Unmittelbar und dicht, viel zu. Blicke, die ins Mark gehen, man kennt einander. Ein kurzes Nicken. Seitens Herrn Lingen stumme Wut. Herr Müller mehr verdattert und erschrocken. Richtet sich wieder auf und zupft seinen Mantel zurecht. Wie war noch gleich Ihr Name? Da ist Herr Lingen schon weg. Er lässt sich nicht aufhalten. Von nichts und niemanden. Nur nicht berühren.

Herr Lingen, ruft Frau Schmidt aus dem zweiten Stock, da ist ja Herr Lingen. Irritiert kreist Herr Müller seinen Kopf, seine Augen bleiben haften an dem Haus. Er schaut rauf, runter, rauf, will die Stimme orten und sieht doch nur eine alte Frau am Fenster. War sie es, die gerufen hat? Dann lärmt sein Schädel. Der Lärm, der Lärm, ihm ist, als platze sein Trommelfell, wie so häufig. Unmöglich, dass sie ihn hat verstehen können. Unmöglich von da oben. Noch, dass er ihre Wort hat hören können. Ganz und gar unmöglich. Eigentlich. Ihn beschleicht ein bekanntes aber unbequemes Gefühl. Der Lärm. Schwindel ergreift ihn. Herr Müller schwankt, dreht sich zur Straßenseite und … Mensch, passen Sie doch auf, wütet eine junge Frau. Für einen Moment streift seine Hand ihren Busen, seine Wange ihre Haare. Kurz der Moment, zu kurz. Peinlich berührt zieht er zurück. In ihm steigt Röte auf, erhitzt sein Gesicht. Er schämt sich ihrer Wärme. Schnell verschwindet seine Hand in der Manteltasche. Nur nicht berühren. Nur nicht.

Verwirrt sucht er Halt, findet keine Position, als sei das Stehen fremd geworden. Im Gleichmaß schaltet die Ampel von Rot auf Grün, auf Rot, Grün, Rot auf Grün. Betäubt ob seiner Gefühle betritt Herr Müller halb taumelnd, halb festen Schritts die Straße.

Dann: Quietschende Bremsen, ein dumpfer Aufprall, der markerschütternde Schrei eines Kindes. Todesstille. Die Unmittelbaren bilden eine Traube um das Geschehen, als schirmten sie es ab. Handy, ein Handy, Feuerwehr, Rettungswagen, Polizei – hier ich – ich hier – hier - ein Tohuwabohu. Derweil setzen andere ihren Weg fort. Schnell. Nur nicht berühren.

Inmitten Herr Müller, der zum Stehen kommt. Paralysiert. Lingen, bestätigt er sich tonlos, und die Frau im zweiten Stock heißt Schmidt. Tränen laufen über sein Gesicht, schmecken nach dem Salz der Stille. Aus großer Ferne dringt hysterisch wirres Zeug zu ihm durch. Kita-Läuse, Kita-Läuse, die Hochbahn! Läuse, die Bahn. Sie wollte ausgucken, sie wollte. Nicht laufen Mama, immer wieder. Das hat sie gesagt. Ich habe sie doch an der Hand. Der Hand, der. Frau Nissen schaut in ihre leeren Hände … Schreiend bricht sie zusammen.


Drei Straßen weiter sendet Herr Lingen eine SMS: Komme etwas später. Verkehr liegt durch Unfall lahm. Bin am Auftrag interessiert. Gruß Tom. Oben im zweiten Stock zieht Frau Schmidt die Gardinen zu.


Sequenzen

schnitte, scherben
kinderhände strecken sich
wenn ihr blut
alle schreien: pflaster und verband
laufen, rennen, suchen diesen
große, kleine, junge, alte
menschen durcheinander
rufen, weinen, lachen, trösten,
schneiden, kleben,wickeln, reden
stolz zeigt
die verbundene ihre leistung

sonder sondieren
klapps klapps die mühle
wenn idioten mit einander
schneiden sie die zeit tot

komm - es gibt fraktur
schau nur hin
dann schlägt die uhr
die zeit

vergiss.mich.schnell -
die blume blüht noch
auf dem hof

im nachgeben
im ruhegeben
im vergeben
im sich Übergeben
wird die gabe eingeschmolzen

viel der liebe, viel des glücks
nur die panik blieb zurück
alles wird kaputt gegangen
wenn die harmonie einkehrt


Zuletzt gingen sie Arm in Arm, gestern. Mühsam und schön zugleich. Zu mühsam, vielleicht, zu schön.
Heute trafen sie sich wieder. Stilles Einvernehmen. Morgen küssen wir uns, sagten sie gleichzeitig, wohl wissend.
Später werden sie einmal sagen: Schade.
Für sich, im Stillen.
Jedes weitere Wort würde die Erinnerung gefährden, den Schleim vergangener Tage zerstören.
Dazwischen, da waren sie verheiratet.



Wasser, das uns trägt

Rudern, antwortete Solveig beinahe bittend.

Also rudern. Großstädtisch, selbstbewusst, stolz organisierte er für sie beide ein Ruderboot. Solveig ließ ihn machen, hielt derweil ihr Gesicht in die Sonne und spielte versteckt hinter ihrer Brille mit den Strahlen. Komm, winkte Bernd sie herbei, als er fertig war. Sie sollte als erste den wackligen Boden betreten und sich einen Platz suchen, während er sie und das Boot hielt, die Lage, fest im Griff. Und klar setzte sie sich auf den gegenüberliegenden den Sitz, nicht auf den, an dem die Ruder befestigt waren. Und klar kam er festen Tritts in das Boot, setzte sich an die Ruder und legte los.

Sie beobachtete seinen athletischen Körper, ließ ihn auf sich wirken, prägte sich ihn ein. Im Geiste zeichneten ihre Finger seinen Umriss, nahm ihre Hand Berührung auf. Sie spürte durch sein langärmliges, wie immer blau-weiß gestreiftes, tailliertes, wie immer exakt sitzendes Oberhemd seine Haut, fest und weich zugleich, warm, und bekam Lust auf mehr. Alles war vergessen. Alles war gestern. Alles gestern war. Solveig ignorierte ihre aufkommende Nervosität, ihre leichte Fahrigkeit, gereizte Zerissenheit.

Hey Kleines, was ist mir dir? Er nannte sie „Kleines“, sie rieb sich am linken Ohr und schaute ihn wehmütig, lustvoll an.
Ich? Ich schaukel gerade durch ein Liebesleben, vorzugsweise meins, vorzugsweise deines, vorzugsweise …. Sie ließ die linke Hand ins Wasser gleiten, spreizte ihre Finger, dass deren Zwischenräume eine Stromschnelle ergaben. Wie das Wasser sie kühlte und erregte. … Fahr, fahr, schneller, flüsterte sie, schneller, einmal, ein einziges mal am Ende der Welt Erdbeeren essen, Wellenrauschen zwischen den Zeiten …. Bernd hörte auf zu rudern, kroch zu ihr rüber, das Boot kippelte, Solveig gab eins drauf, lachte dabei verschämt, herausfordernd, neckend, sie kam ihm entgegen bis er seine Lippen leicht auf ihre legte. Sie öffnete den Mund und ließ geschehen. Das Boot kreiselte, kreiste um sich selbst, um zwei Liebende, bergend.

Warum nur? Warum, warum hast du mich verlassen? Warum hast du? Warum? Immer leiser wurden seine Worte in ihrem Ohr, verschwanden im Nebel ihrer Erinnerung in weißer Taubheit. Fäden, innere, rissen. Sie stand am Krankenbett ihres Vaters, noch einmal. Noch einmal sah sie seinen Kopf, aus dem leise unregelmäßig schnaubend Atem strömte. Der Raum, karg, gelblich verschossen, verschwamm zu den Rändern. Vor Augen ihre Hände, noch einmal. Noch einmal sah sie, wie die das ausgeblichene Krankenhauskissen vom Nachbarbett griffen. Fest und entschlossen. Zunächst. Dann das Zittern, das einfach kam, das sich einschlich. Das Zittern, das sie verfluchte, für das sie sich hätte ohrfeigen könnte. Damals wie jetzt. Dabei hatte sie auf diesen Moment hin geübt, nach ihrem Entschluss, der kurz und ruhig, klar und deutlich nüchtern in ihr Leben trat. Alternativlos. Dann immer und immer wieder geübt, die Bewegungen, die sich einprägen sollten. Zuhause. Mit ihrem Kissen. Links und rechts mittig festhalten und runter, drücken. Fest und fester und fester und fester und bing. Jetzt spannte sich ihr Rücken. Jetzt holte sie alle Kraft aus den Schulterblättern, schob ihren Oberkörper leicht über ihre Hände, hatte so maximale Kraft und drückte zu. Das Zittern wich einer Mordswut. Sie kämpfte gegen ein Röcheln und Schnaufen. Signale, die nach Atem schrien. Nach Leben unter ihren Händen. Sie hatte Macht, ohne dass sie diese auskostete. Die Macht schmeckte nach nichts. Sie verlieh ihr Kraft, die notwendige. Eine Unbändige, wie sonst im Alltag, im Gewöhnlichen kaum. Sie konzentrierte sich durchgehend konsequent, bis sie das Röcheln und Schnaufen überhören konnte. Links und rechts in den Augenwinkeln huschten zappelnde Arme vorbei. Arme, deren Bewegung durch Kanülen gesteuert wurden. Marionetten. Ein Moment der Komik durchlief ihren Körper. Nur nicht lachen. In der Wut bleiben. Sonst war alles umsonst. Dann spürte sie einen Stoß gegen ihren Hintern. Sein Knie schlug aus. Der Wettlauf mit der Zeit begann. Sie wollte sich nicht auf ihn setzen. Auf keinen Fall. Gar keinen. Damit hätte sie verloren. Auf ihm sitzen bedeutet Nähe. Auf keinen Fall Nähe. Gar keinen. Töten heißt auf Distanz gehen, verlassen, zu sich finden, bei sich bleiben. Einmal diese Klarheit durchleben dürfen. Einmal nur sie selbst sein können. Einmal. Bis zum Ende. Bis zum bitteren.

Nie zuvor hatte ihre Tat sie so eingeholt wie in diesem Augenblick. Störte, zerstörte alle Sehnsüchte. Warum nur jetzt? Warum nur? Verwaschen sah sie Bernd vor sich sitzen, blickte mit glasigen Augen durch ihn durch, in die Ferne, dem Niemandsland, das nur ihr gehörte, jener Ort, an dem das grelle Licht der Sonne ihre Bilder auflöste, verweilte dort verlegen, tankte Stille, genoss diesen lautlosen Frieden, schwenkte zurück, erkannte nun Bernds Stirn, seine Falten, und stockte. Waren es ihre oder seine Worte? Solveig konnte ihre Gedanken nicht von der Stimme, die sie hörte, trennen. Eine Stimme, die über den See herüberwehte und Abkühlung brachte. Warum nur? Trauer drang von außen zu ihr durch.

Ich tötete jemanden, sagte sie unvermittelt, knapp entschlossen.
Du tatest WAS? Erschrocken kam Bernd hoch.
Ich tötete einen Mann.
Du spinnst!
Nein.

Ich glaube dir nicht. Nein, Bernd schüttelte den Kopf, das ist wieder so ein Ding. Hältst mich wieder mal zum Narren. Warum auch anders. Du musst mich kränken, wie so häufig, ach immer, eigentlich. Irgendwas treibt dich … irgendwie muss du mich verletzen. Mich loswerden. Enttäuschung wandelte sich in Wut und zurück. Fassungslosigkeit nahm von Bernd Besitz, ließ ihn einen Riemen aus den Händen gleiten. Das Boot schwankte.
Nein. Solveig blieb knapp in ihrer Antwort, ruhig im Vortrag.

Und wie hast du es gemacht, bitte schön? Erzähl mir wie, sortierte sich Bernd nach einer Weile. Die Weile, die er brauchte, um sich und das Boot wieder in den Griff zu bekommen.
Ich habe ihn erstickt, im Krankenhausbett erstickt.
So, allerdings. Bei deiner Körpergröße. Zornesröte stieg ihm ins Gesicht. Er verstärkte seinen Griff um das rechte Ruder und stieß mit beiden Hände die Riemen in seinen Schoß. Schräg ragten die Blätter aus dem Wasser. Dann riss er mit Wucht seine Arme hoch und stach in See. Empört schepperte er die Ruderblätter über das Wasser und brachte das Boot, nun ein wenig schlagseitig, zum schaukeln und schlenkern. Wasser spritzte. Solveig schaute ihn an, fast wehleidig sentimental. Ein Hauch Mitgefühl kam auf. Womit eigentlich? fragte sie sich. Wortlos verlagerte sie ihr Gewicht, damit sie nicht kenterten. Intiutiv. Das Gleichgewicht muss wieder hergestellt werden, dachte sie, freute sich dabei über die Spritzer, die den Sonnenbrand auf ihrer Nase kühlten. Erst die Bewegung hatte ihr den Schmerz brennend ins Bewusstsein geholt. Nur nicht anfassen, verordnete sie sich und ruckelte sich zurecht, beide Hände an den Bootsrand legend. Leichtes mitschwanken. Leichtes Gegensteuern. Gegen die Bewegungen des zunehmend wütenden Geschöpfs vor ihr.

Und warum hast du mir geschrieben?” zischte es an ihrem Ohr vorbei.
Vielleicht, um sicher zu gehen, sinnierte sie, ihr Spiegelbild im Wasser betrachtend. Vielleicht, für einen Tag wie diesen, weil du mir fehlst, weil … deine Antwort damals klang so …, warm, … so unbedarft, so sorglos, wie eine nette Urlaubskarte …
Pff … nein meine Liebe, die Arglosigkeit lag auf deiner Seite. Deine Post, die ich plötzlich aus heiterem Himmel erhielt, die nur eine Adresse und eine Telefonnummer beinhaltete. Bernd fühlte, wie sich sein Inneres in eine Wüste stumpfer Unbeholfenheit wandelte, allein dem Zweck dienend, seine Wut zu betäuben. Er hob die rechte Schulter nach oben und ließ sie samt Ruder in der Hand wieder fallen. Eine Ladung Wasser schwappte über die Reeling, spritzte auf und nässte beider Füße. Solveig saß vor ihm, Wasser rann ihr am Hals herunter und benetzte ihre Bluse. Er starrte auf ihren Busen. Für einen Moment wünschte er sich Solveig nackt. Sie sollte nackt vor ihm sitzen. Ja, nackt, geil und erbärmlich. Leicht verschämt aber doch mit einer Geste der Selbstgefälligkeit schüttelte Bernd Wasser aus seinem hellblau gestreiften Ärmel. Anschließend fuhr er sich durch das blonde Haar, korrigierte seinen Sitz und setzte sich wieder mittig, gerade. Sein Blick folgte. Geradeaus, ganz gerade. Ruhe, innere. Ruhe. Langsam spürte er die Wärme der Sonne auf seinem Rücken, die die versteckten Tränen trocknete. Klar, na klar, wie deppert bin ich denn.”Er schlug sich mit der flachen Hand gegen seine Stirn. Du musstest dich ja schützen. Ich konnte ja kein Vertrauter mehr sein. Ich wurde ja selbst zu einer Gefahr. Na klar … Bernd schüttelte erneut seinen Kopf und fiel leicht nach vorn, in sich zusammen, wandte sich ab, dann Solveig wieder zu, schnappte nach Luft.

Ich fürchte mich.
Das brauchst du nicht.
Das brauche ich nicht?
Nein.
Nein? Ich brauche mich vor einer Mörderin nicht zu fürchten? Wa .. Warum hast du ihn getötet, he? Ehrlich gesagt, es gibt keine Antwort oder nur diese: Er hatte zu viel Macht, die er Zeit seines Lebens in Gewalt umwandelte. Schon als Jugendlicher war er fasziniert von faschistischer Gewalt und konnte sich noch Jahre später daran ergötzen. Bis weit in die 60er Jahre waren seine Geschichten unser täglich Brot. Er, der seinen Kameraden half, wenn sich diese nach dem Judenbashing bei ihm zuhause sammelten, um sich zu stärken. Dann hatte er immer eine Stulle und Buddel Bier zur Hand. Er, der niemals etwas Unrechtes tat, der nie mitmarschierte, der fleißig backstage für Stimmung sorgte. Er, der gute Nazi von nebenan.
Hör auf damit!
Nein, ich höre nicht auf damit. Du hast es wissen wollen. Und jetzt bekommst du es zu wissen. Solveig wurde bestimmt, bekam eine klare dunkle Stimme, die Bernd noch nicht kannte. Deren Fülle das Braun ihrer Iris stärkte. Er schaute sie an, kniff seine Augen und taxierte. Schlagartig wurde er schneidig, kämpfte um seine Integrität.

Das ist doch nun wahrlich Vergangenheit.
Nein, es war mein Leben.”
Bitte? Irgendein Altnazi war dein Leben? Geht es noch dicker?
Er bekam nach dem Krieg sofort eine gute Stellung … du wirst lachen … in der Versicherung. Eine Branche mit Zukunft.
Hör auf, auf, auf …” Bernd hielt sich die Ohren zu. Sofort fing das Boot zu schwanken an. Stechende Sonne tunkte ihr Licht ins Wasser, spielte mit Interferrenzen. Strahlen tauchten in ein gleißendes Licht, auf und nieder, reflektierten. Körper gingen mit und neigten sich, Blicke suchten sich geblended , weichten blinzelnd aus. Sonnenbrillen, verstreut im Boot, rutschten vor und zurück. Das Boot kippte leicht, kippte weiter, kippte sie, kippte beide, gefährlich zur Seite geriet es in Schieflage.

Nein. Kein Kuss der Welt lässt mich mehr aufhören. Solveig fand sich wieder, kam hoch, beschwerte das Boot anderseitig und sah in ein auseinanderfallendes Gesicht. Verdutzt starrte sie auf die eine Hälfte, dann die andere, suchte einen Fokus, erschöpfte sich. Zuletzt setzte sie ihre Stimme gegen das dargebotene Vexierbild und fuhr fort. Während er Karriere in der Versicherung machte, wurde er Vorstandsmitglied beim Eimsbüttler Turnverein. Er unterstützte die Kommunistenjagd in den Fünfzigern, die Studentenjagd 1968. Nun sind RAF und mit ihnen die Friedens- und Anti-AKW-Bewegung in seinem Visier.
Da ist er nicht der Einzige, keuchte Bernd, sich aus seiner Lage befreiend. Willst du sie alle umbringen? Als Jeanne dArc des Zweiten Weltkriegs? Nachträglich?
Du vergisst, dass ich sein Kind bin.
Ach ja, wie konnte ich … das Töten scheint euch ja angeboren zu sein … Stop. Momentmal … Seine Werte strukturierten auch die Familie, sprach Solveig weiter, bestimmt. Der prügelnde Bügel, das verschlossene Zimmer … Ich hatte noch einen Bruder. Anton. Anton ist der Zwillingsbruder von Johann und Anton ist geistig eingeschränkt. Mein Vater sperrte ihn in den Keller. Dort sollte Anton sein Leben fristen, denn umbringen durfte er ihn ja nicht mehr. Noch bevor Anton sein Leben richtig wahrnehmen konnte, wurde er aussortiert. Eines Tages, Anton war vielleicht vier oder fünf, fuhr Vater, wir hatten das erste Auto, einen VW-Käfer, mit Anton in eine Anstalt für geistig Kranke und gab ihn dort ab.
Momentmal! Bernd wurde lauter, ärgerlicher. Das nehme ich dir nicht ab, überschlug sich seine Stimme.
Mutter ging Vater, wenn immer sie konnte, aus dem Weg. Später kam sie öfter in die Psychatrie. Davor war sie auf Kur, wie es hieß. In diesen Zeiten haben Johann und ich den Haushalt geschmissen, einschließlich der Versorgung von Anton. Und ich, die Ältere, das Mädchen, hatte sich besonders zu kümmern, auch um Johann. Am härtesten waren die Nächte, wenn Anton schrie. Nachts kamen die Ängste, die Monster. Und nachts war die Gefahr besonders groß, dass jemand ihn hörte. Mutter gab, vermutete ich, in allem ihre stille Zustimmung. Aber dann brachte sie sich um. Mit einer Überdosis.
Das war dein Vater? Du hast deinen Vater umgebracht? Vater? Deinen Vater?
Ja.
Was soll das. Du warst erwachsen. Da spazierst du mir nichts, dir nichts ins Krankenhaus und erstickst deinen Vater und … und … und …. Bernd kam ins Stottern, suchte nach Worten und ihren Verknüpfungen, stocherte und rang um Sinnhaftiges. Währenddessen saß Solveig aufrecht, ruhig abwartend. Mit jedem seiner Sätze wurde sie entspannter, gelassener bis alle Kanten ihres Kristalls schmolzen. Statt Tränen floß frischer Atem durch ihren Körper.
Da kannst du doch nicht mehr deine Familie zur Verantwortung ziehen …, stammelte er, … wir waren doch zusammen, ein Paar, planten zusammen zu ziehen … da übernimmt man doch selbst Verantwortung, gründet eine eigene Familie und sieht dann alles auch mit anderen Augen … … und gibt die schlechten Erfahrungen weiter. Famlien sind auch ein Ort der Traditionspflege und Psychogenese, ergänzte Solveig.

Bernd sah sie an. Durch sie durch. Fremd, angeekelt, entsetzt, leer, zuletzt bekümmert. Er hörte nicht mehr zu. Sein innerer Fluss, sein Ich, sein Selbstverständnis, seine Selbstgewissheit waren unterbrochen worden. An deren Stelle trat ein Nichts. Ein Ozean von Nichts, an dessen Horizont ein Riemen baumelte, nach dem er griff. Monoton. In der Ferne hörte er eine Stimme, immer noch klar, geordnet, voll. Voll menschlicher Wärme. Nein. Er verbannte sie nach hinten. Nach weit weg. Er zwang sich Härte ab, biss seine Zähne zusammen, am Ende hörte er ihre Stimme nur noch plappern. Er kannte diese Frau nicht. Er wollte sie nicht kennen. Er wollte, dass das „Nicht-Kennen“ zur Kategorie „Für-Immer-Fremd“ wird. Keine Nachfrage. Nicht und nie.

Er wartete auf die neue Zeit, in der jeder wieder nach dem Führer schreien wird, fuhr Solveig fort, unverdrossen. Davon war er überzeugt. „Sie wird kommen, die neue Zeit“ … plusterte er sich dann auf … „und du meine Tochter“, … in diesen Momenten nahm er mich seitlich in Arm, so kumpelhaft, … „du wirst eine große Rolle spielen. Irgendwas mit Kindern. Das kannst du doch so gut. Das habt ihr Frauen doch so richtig im Blut. Ha, Ha, Ha. Meine Tochter, du wirst eine echte Frau, eine echte deutsche Frau. Mit einem Kerl an der Seite. So einem echten Burschen. So einem echten, rechten Burschen. Einem knackigen Arier …“, gierte er, „ … ihr werdet noch sehen …“, dabei bohrte sein rechter Zeigefinger ein Loch in die Luft, „… früher oder später kommt eine dicke Krise, diese Weicheidemokraten werden sie nicht bewältigen, die denken sowieso nur an sich, dann kriegen wir wieder 1929, und alle stehen Schlange am Amt, dann wird man sich erinnern, wer Deutschland gerettet hat. Nicht die Amis, nee. Die kochen doch auch nur ihr Süppchen auf unsere Kosten. Meine liebe Tochter …“, um das zu unterstreichen, schüttelte er mich mit seiner rechten Hand, „ … meine liebe Tochter, merk dir das gut. Und eines vergiss nie …“, dabei nahm seine Stimme einen beharrlichen Tonfall an, „Blut ist dicker als Wasser. Denk dran, sonst …„ , das garstige Funkeln seiner Augen deuteten an, was ich zu verlieren hatte, würde ich es wagen, mich zu widersetzen. Bernd erstarrte, wollte rudern. Ans Ufer. In sein Leben. Doch er konnte nicht. Gelähmt vor Wut. Auf was?

Vielleicht war Mutters Tod der Auslöser. Vielleicht. Vielleicht hätte ich ihn nicht töten sollen. Vielleicht. Vielleicht hätte es andere Wege gegeben. Vielleicht. Sich in Alternativen zu suhlen, kann vieles leicht werden lassen. Vieles zu leicht. Vielleicht. In dem mäandernden Sumpf an Entscheidungsmöglichkeiten fällte ich eine. Irgendwann. In dem Moment gab es keinen guten Grund mehr. Und danach stand ich auf der Seite meiner Entscheidung und handelte.

Pah! Vielleicht. Vielleicht mein Fräulein, vielleicht hättest du besser den Willen gehabt, dich nicht zur Mörderin zu machen. Vielleicht, oh ja vielleicht, hättest du dich nicht als Richterin aufgespielt, hättest ihn angezeigt, hättest die Möglichkeiten der Demokratie, oh ja, hättest vielleicht gesehen, dass wir nicht mehr im Faschismus leben und ein unabhängiges Gerichtswesen haben … ja so ist es, da guckst du … vielleicht.
Du redest, als hätte ich DICH umgebracht. Solveig runzelte ihre Stirn, kniff die Augen zusammen. Dann zog sie ihre Brauen hoch.
Bernd starrte in das ratlos-ungläubige, schmerzverzerrt-abwesende Gesicht. Vor ihm mutierte Solveig zu einem Zombi mit komischer Note. Ein Wesen, das ihn unentweg einer Prüfung aussetzte. Inmitten dessen eine Nase thronte, auf deren Rücken sich ein schwerer Sonnenbrand abzeichnete. Er überlegte, Solveig auf diesen aufmerksam zu machen, ließ es aber. Soll sie doch verbrennen, sagte er sich, an ihrem Zorn, sagte er sich. Sie, sie existiert nicht, sagte er sich, sie und ihre Nase nicht, sagte er sich.

Gib mir Gründe. Für die eine oder andere Entscheidung. Gib mir eine Haltelinie. Welche Gründe sind gefällig? Welche sind plausibel? Welche sind gut und richtig? Und welche Gründe gibt es für die Gründe, für ihre Kriterien, für die Kriterien der Gründe? Erzähl, wo und wann hört der Abgrund auf? Nach deiner Meinung oder geht diese gänzlichen im Objektivierbaren auf? Wie ist es eine Meinung zu haben, wenn der Boden schwankt, hm? Solveig öffnete ihre Augen und wollte wissen. Wollte Bernd aus der Reserve locken, von dem Sockel seiner Erhabenheit stoßen, ihn klein machen. So klein, wie sie selbst immer war. So klein, wie sie hier vor ihm sitzt. Leicht nach vorn gebückt, ihren Schmerz ignorierend, das Boot festumklammert, um sich, um ihr Selbst ringend.

Ich kann dir keine Gründe geben, aller höchstens welche nennen. Unser sozialer Zusammenhalt wäre nachhaltig gestört, würden wir Selbstjustiz üben, würde Rache uns leiten. Keinen Deut wären wir anders, vergelten wir Gleiches mit Gleichem. Wir kämen nie aus der Gewaltspirale heraus, klebte an unserer Hände Blut. Es bedarf einer dritten Instanz, die über Recht und Unrecht urteilt. Eines objektiven Blickes. Bernd starrte unablässig auf Solveigs Sonnenbrand. Er müsste eingreifen, die Situation hier aufheben, erste Hilfe leisten. Er müsste. Aber nein, er muss klar bleiben. Einer muss hier ja klar bleiben. Nur er scheint hier noch Vernunft zu verkörpern. Ja, nur er. Sich nicht von ihren Fragen berühren lassen, keine Zweifel aufkommen lassen. Keine Zweifel, Bernd Drewitz, sagte er zu sich selbst und versteinerte.

Ach ja?, reagierte Solveig, wie bitte sind Emotionen objektivierbar? Laufen wir nicht ständig dem Bösen hinterher, versuchen es im Zaum zu halten? Sind denn diese Sollenssätze etwas anderes als gute Vorsätze? Ein schlichtes Korsett, das unser gemeinsames Leben zusammenhält, dem Leben einen sozialen Zusammenhalt verpasst, wie du so schön formuliertest? Wo bleibt der Puls, der Impuls? Der Alltag, in dem in jeder Minute unendlich viele kleine Fragen, Entscheidungen, Handlungen deinen Weg bestimmen? In dem deine Grundsätze, Haltungen, Willensbekundungen herausgefordert, umgedeutet und in Frage gestellt werden? Brauchst du jedesmal eine dritte Instanz?

Sei nicht albern. Du weist sehr wohl, dass ich vom Töten spreche, konterte Bernd. Du meinst also, das Töten sei eine Handlung, die jenseits unseres Alltags geschieht? Das Töten und der Wunsch danach als Exterritorium unseres Seins?
Du musst schon zugeben, dass es nicht alltäglich ist.
Und wie erklärst du dir die alltägliche Gewalt gegen Frauen? Noch bringen mehr Männer Frauen um als umgekehrt!
Prima Argument. Passt doch in deine Logik. Kannst mal sehen, wie Männer unter Frauen leiden. Welche Strafe steht eigentlich auf Zynismus, vor allem auf deinen? Nicht das Morden aber Gewalt ist alltäglich. Und Gewalt ist eine Frage der Macht und nicht des Leidens. Gibt es eine Instanz, die über Macht befindet, ja? Und wenn ja, wer instruiert diese? Na?
Wir haben Gewaltenteilung, Gewaltenteilung, Gewaltenteilung … hämmerte Bernd unablässig auf den Bootsrand klopfend auf sie ein.
Von welcher Gewalt sprichst du? Von der der Männer über Frauen, Eltern über Kinder, Geschichte über Gegenwart?
Ich spreche darüber, dass gesellschaftliche Gewalt aufgeteilt wurde in Judiskative, Legislative und Exekutive. Ach, du weißt das doch selbst … und wir in einem demokratisch aufgebauten Rechtssystem leben, in dem Unrecht bestraft wird. Aber wenn du ihn nicht anzeigst …
Als Kind?
Nein, als Erwachsene.
Was soll ich anzeigen? Seine faschistische Haltung während des Faschismus? Seinen fehlenden Willen, dieses Rechtssystem vollständig anzunehmen und nicht nur nach seinem Kalkül und Nutzen auszubeuten? Die schiefen Grundlagen meines Lebens? Und die Folgen daraus?
Und all das rechtfertigt a. seinen Tod und b. dich als Vollstreckerin. Ein bisschen viel Willkür auf einmal, findest du nicht auch?
Das Maß war voll. Ich brauchte Luft zum atmen. Zugang zur Welt … Ich korrigiere mich, es gab keine guten Nazis von nebenan. Sie waren alle durch und durch verseucht. Gefangen in ihrer eigens aufgebauten Spirale von Macht, Gewalt und Vernichtung, sponnen sie später fett an ihren Netzen weiter, wurden immerzu gefüttert. Aber die Zeiten haben sich geändert. Die Welt braucht sie nicht mehr …. Mit einer erhabenen Handbewegung wandte sich Solveig an die Welt.

Am besten alle auslöschen, nicht wahr? Bist doch genauso, aus dem gleichen Stall. Schon mal gehört, das Menschen sich ändern? Dass …
Ja, Solveig drehte sich schlagartig zu Bernd um, ja, wenn sie wollen. Vater aber sagte: „Warum nicht. Warum kein Faschismus?“ In seiner Fantasie hatte Hitler nicht nur Autobahnen gebaut sondern die Banken aus der Krise gerettet. Hatte der Faschismus ihm Potenzen zugesprochen, Allmachtsphantasien geschenkt, Ableitungen kultiviert. Warum nicht? Jede Alternative konnte nur verblassen im Antlitz der Hochglanzästhetik gestählter Männlichkeit, zopfgebundener Weiblichkeit. Bitte keine Alternativen! Jede Alternative wurde zu einer Gefahr … Solveig warf Arme und Hände abwechselnd hoch und ins Wasser, erfrischte sich, die Welt und Bernd … Welche deiner Gewalten ist hierfür zuständig?
Das ist doch reinste Lyrik hier, Bernd schüttelte das Wasser aus seinen Haaren. Sollen sie doch bei ihren Stammtischen oder, was weiß ich wo, ihre Wunden lecken, ihre Omnipotenz pflegen. Solange man sie klein hält … Es gibt Schlimmeres.
Sie wüten in ihren Familien. Sie wüten über ihre Frauen, Kinder und alle Schwächeren. Sie wüten genau, gezielt und basteln an ihrem Comeback. Jeden Tag, immer wieder aufs Neue. Sie warten ab und klatschen dir zu. Sie freuen sich über dich und deine Gewaltenteilung. Sie gehen mit dir zur Tribüne und zollen dir Respekt. Denn sie wissen …
Schluss jetzt. Aus. Geh mit deiner Mystik, widme dich deiner Verschwörung aber lass mich zufrieden.

Gut. Dann gehe ich jetzt. Solveig stand auf und setzte an, über Bord zu gehen. Bist du des Wahnsinns? Bernd beugte sich nach vorn, griff nach ihrem Arm, schnappte nach dem Stoff ihrer Bluse, mit der rechten Hand … das Boot kam hinterher. Solveig drehte ihren Kopf, seitlich über ihre Schulter, fragte trocken: Will I stay or will I go?

Setz dich hin. Sofort!, schimpfte Bernd, gepresst, zerrte weiter an ihrem Arm, lenkte schließlich ein. Lass gut sein. Ich will hier kein Bad nehmen. Und will auch kein Aufsehen. Wollte nur die Stadt sehen …, murmelte er immer leiser werdend … nur sehen. Die Stadt sehen. Die Stadt. Will gerade sitzen und rudern. Will meine Bügelfalten wieder haben. Mich amüsieren. Kann mir die Reise leisten. Bin freiwillig hier. Habe Geld und kann mir eine Sightseeing-Tour leisten. Arbeite in der Versicherung. Extra. Kann mir nichts passieren. Ruder weiter, Junge. Steuer das Boot. Geradeaus. Habe mir just Aktien gekauft. Erstmal zwei. Mal schauen. Macht man jetzt so. Habe Kollegen. Die haben auch Aktien. Zuhause unterschreibe ich den Kaufvertrag für mein Reihenhaus. Habe einen guten Kredit bekommen. Bin ja auch ein solventer Bürger. Mache in Versicherung. Das hat Zukunft. Erstmal ein Mittelhaus. Später wird es was größeres, vielleicht. Können doch alle haben. Müssen halt selber Verantwortung übernehmen. Aktiv für sich sorgen. Dann kriegen sie auch einen Kredit. Nicht immer diese Anspruchshaltung. Nein, nein Frau Schuller, sie immer mit ihrer Gewerkschaft … Den Arbeitern gehts heute auch viel besser. Sind auch Kleinbürger … jaaa. Ist doch alles Ideologie. Hitler war auch gestern. Wir müssen auch mal wieder Freude haben, mal vergessen dürfen. Das kann alles nicht mehr so weiter gehen. Die Ölkrise … Hey, die Ölkrise!, rief er plötzlich und laut.

Erschrocken, verdattert setzte sich Solveig, nicht ohne ein weiteres Mal zu wippen, nicht ohne eine weitere Schippe lauwarmes Wasser, das ihre Fesseln umspielte. Angenehm. Sie beugte sich vorn über und badete ihre Handflächen, sah dabei seine beigen Mokkasins. Sah, wie diese, vollgesogen mit Wasser, sich in ein dreckige beige-gelb verfärbten, hörte, wie sie mit jeder Bewegung ein sappschendes Geräusch erzeugten. Unmelodisch hässlich-bieder. Ihr Blick gleitete hoch vorbei an den leicht mitgenommenen Bügelfalten seiner ebenso beigen Bundfaltenhose zum Schritt. Bisschen zu breitbeinig, fand sie, er saß ein bisschen zu breitbeinig. Es wirkte wie eine Blumenvase, in der sein Rumpf zur Blüte quoll. Umspannt vom blaugestreiften Hemd, das, zu schnell wieder in den Bund gesteckt, nun seinen Oberkörper straffte. Bernd hatte den oberen Knopf geöffnet, leicht leger eigentlich, nun verkrampft. Vor ihr ein stoischer Körper, dem der Schweiß in den Achselhöhlen saß, dessen wohlgeformter Kopf aus blau-tristen Augen bestand. Augen, gemacht für die Unerbitterlichkeit, für die Richtigkeit des Seins, für die Unendlichkeit. Komm lass uns fahren, antwortete Solveig. Matt und sanft.

Fühlst du dich erleichtert?, fragte Bernd in die heiße Stille während ein Gemisch aus Wasser und Schweiß seinen Rücken herunter perlte, ihn kitzelte. Noch immer fühlte er sich gefangen in sich selbst. Konnte sich nicht rühren, geschweige denn rudern. Er saß einer Statue gleich auf der Holzbank des Ruderboots. Die Riemen fest im Griff, die Knöchel weiß vor Schmerzen. Vor ihm ein gekrümmtes Wesen, ein trauriger Sonnenbrand, hockend in sich schaukelnd. Und so klar, so verwunderlich.

Ich fühle mich freier. Ich handelte … mir zwar etwas ein … aber handelte. Ich schritt zur Tat und wurde Täterin, etwas das Vater mir voraus hatte. Und mit ihm viele andere über Jahrtausende. Mit jedem Tun scheidest du doch das eine vom anderen, entscheidest du, bekommst Macht über dein Leben, gestaltest dieses. Wirst im warsten Sinne mündig. Da haben wir Frauen noch vieles nachzuholen. Auch die Neuzeit mit ihrer Demokratie und Gewaltenteilung hat uns eigentlich vergessen. „Leicht“ ist für mich kein passendes Wort.
Und die Moral? Tut es dir wenigstens Leid? Tut er dir Leid?, bettelte Bernd.
An und ab überkommt mich eine unendliche Traurigkeit. Dann frage ich mich, warum der Glanz in meines Vaters Augen so lang schon erloschen war. Schon lang vor meiner Geburt. Wenn überhaupt, dann Mitgefühl, aber ehrlich, toten Augen mein Gefühl zu schenken, fällt mir ungeheuerlich schwer. Solveig mühte sich um Bernds Blick, dessen Kopf zur Seite hing, seine Tränen vor ihr bergend.

Wirst du mich jetzt anzeigen?, fragte sie zurückgelehnt, zurückgenommen, leise verabschiedend in Bernds Richtung. Er hob seinen Kopf, drehte sich um und sah Solveig, ließ seinen Blick auf ihr ruhen, eine lange Zeit … Nein, ich kann dich nicht verteidigen.


Im Zweifel, vielleicht

Der Tunnel, der keinen Sinn machte, kam kurz hinter der Kurve der zweispurigen Straße, auf der nie ein Auto fuhr. Linker Hand Wiesen, kurz geschnitten, grün, begrenzt von einer Bergkette. Versteckt, geahnt ein Bach, der einfach da war, wie ein Bach, wie Wiesen, Berge, wie eine Landschaft eben da sind.

Gewöhnlich ging sie einmal am Tag durch den Tunnel, der Sonne entgegen, einfach nur so, gewöhnlich ohne Grund. Vielleicht um einmal herauszukommen. Aus dem Dorf, aus dem Haus, aus ihrem Zimmer. Vielleicht aus allem, aus ihren Zusammenhängen, wo sie denn zusammen hängen. Einfach raus, sich zerstreuen und die Dinge neu sich finden lassen. Oder raus, um sich zu halten. Ihre Dinge festzuschrauben. Vielleicht war es auch Neugier, die sie trieb, einfach so trieb. Neugier auf das, was sich hinter diesem Tunnel befand. Vielleicht.

So getrieben habe sie sich damals an dem Tag langsam auf den Tunnel zubewegt, als sie, weit hinten, schattenhaft Bewegung wahrnahm. Sagte man sich später. Sie sei stehengeblieben, habe die Augen zusammenkneifend Fragmente eines stattlichen Mannes ausgemacht, der, sie sehend, seinen langsamen Gang fast zum Stillstand gebracht hätte. Er erschien ihr aufmerksam, nicht aufdringlich, oh nein. Nur aufmerksam. Auch nicht eigentlich neugierig, eher wünschend, suchend und zurücknehmend zugleich. Auf keinen Fall erstarrt. Schon in Bewegung, ja. Geschmeidig langsam.

Wegen der Entfernung habe sie sein Gesicht nicht sehen, trotzdem seine körperliche Wärme spüren können, erzählte sie nachher dem Dorf. Auch, dass sein Entgegenkommen sie sanft von unten gegriffen habe. Angesteckt, sei sie gewesen. Angesteckt von seiner reservierten Sehnsucht. Hinterm Ohr, in den Schultern, in den Leisten - erst ein wenig, noch hinnehmbar, dann ignorierend, doch spürbar wieder und wieder kommend ein gleich-müßiges, zuletzt gleich-unmäßiges Pochen in ihrem Leib.

Beide wären ihrer Wege gegangen, seien wieder gekommen, später täglich. Jedes Mal ein Stückchen näher. Jedes Mal ein bisschen wärmer, bis ihr Körper zitterte. Indes habe sie niemals sein Gesicht sehen können. So habe sie sich immer wieder umgedreht und sei gegangen. Immer wieder. Und gekommen. Immer wieder. Vielleicht auch in dem Wunsch, für einen bestimmten Moment ihr sommerliches Kleid fallen zu lassen, sich der Wärme hinzugeben. Vielleicht wäre diese Geschichte hier zu Ende gewesen, hätten sie sich an dem Tag wortlos angeschaut und wären aneinander vorbeigegangen. Als eine Offerte im Raum. Einfach so. Vielleicht.

Doch sie berührten sich. Erst zufällig am Arm, dann die Hände, irgendwann versperrten sie sich lächelnd, witzig den Weg, den folgenden Tag hielt sie seinen Unterarm mit ihrer linken Hand. Er sei weitergegangen, sie habe gezerrt, er hob seinen Arm, sie habe gekrallt, er hob ihn hoch, sie sprang hinter her, er schüttelte den Arm, sie griff fester, nun kämpfte er, klar und deutlich bis sie abgelassen habe. Er sei weiter gegangen, habe beim Umdrehen "auf morgen" geflüstert, schelmisch. Sie blieb zurück und blieb. Den nächsten Tag, den übernächsten, den Tag darauf, den darauffolgenden und folgenden und folgenden. Sein Gesicht von hinten sehend. Stumm. Am Gaumen klebte ein Tschüß, das ohne ein Hallo zu keiner rechten Form fand.

Später meinte man, ihre Angst vor dem Hallo habe schwer getragen, dahinter der Wunsch ins Gigantische wuchs. Er brach durch und brach ein, in ein Stück Poesie, gebettet in eine Landschaft, die eben da ist, in der sich Wiesen erstreckten, kurz geschnitten, grün, von einer Bergkette begrenzt, mit einem Bach, der, nur vermutet vor einem lag.

Noch immer solle sie, wie gewöhnlich, einmal am Tag durch den Tunnel gehen, der keinen Sinn machte. Der Sonne entgegen, einfach so, und wie gewöhnlich gebe es keinerlei Grund. Vielleicht um einmal herauszukommen. Heraus aus den Zusammenhängen, dem Dorf, dem Haus, aus ihrem Zimmer, aus allem. Einfach raus, um zu sehen, was so vor sich gehe. Vielleicht war sie auch neugierig auf das, was hinter diesem Tunnel sich befinde. Auf den Mann, der nie wieder kam, den niemand je sah. Vielleicht aber war es Gleichmut, der sie trieb, einfach so trieb. Vielleicht.


Verbrauchte Zukunft.England 1975

Nein, nein die Brände seien nicht gut. Hier schau das Getreide, das kannst du vergessen. Verbrannte Erde. Vernichtete Ernte. Das werde teuer. Der Sommer sei viel zu heiß. Nein normal sei es nicht.

Er schüttelte den Kopf.

Ach, es sei ihm egal, ob Hitze oder nicht. Er sei auf dem Weg nach Hause. Vom Norden, von der Ölplattform, nach London. Ja, körperliche Arbeit. Dreckig und anstrengend. Das Öl sei schon zur zweiten Haut geworden. Ein schmieriger Film, der ihn überziehe. Da helfe das Duschen auch nicht viel. An manchen Tagen. Jetzt aber fahre er nach Hause. Körperliche Arbeit eben. Dann abrupt: ein kurzes, hartes Lachen.

Sie inspizierte den Mann, dem sie im Zug, so einfach angesprochen, ein Gespräch abrang. Er war nicht groß, eher gedrungen und kahlköpfig. Hatte sich schick gemacht. Trug Hose und Jacke in Jeans, darunter ein Karohemd zum Vorschein kam. Blaurot. Die Karos schnitzten scharfe Kanten in sein wettergebräuntes Gesicht. Müde und doch aufgeräumt sah er gut aus. Sauber. Sah richtig aus. Seine breiten, kräftigen Hände waren aufgerissen und in Öl gegerbt. Dem linken Zeigefinger fehlte ein Teil der Kuppe; geblieben war vernarbte Haut, eingebrannt als Zeichen ewigen Schaffens. Hände wie Werkzeuge. Gereinigt nach getaner Arbeit hielten sie den Daily Mirror gleich einer Feder.

No family, but good money. Dangerous to life?
Yes, sometimes.
Dann wieder: das kurze, harte Lachen.
Stille.

Der Zug fuhr über Romford und Stratford London vom Osten her an. Nussig-würziger Schweiß der Reisenden vermischte sich mit der klebrig-süßen warmen Stadtluft zu einer schweren Melange. Sie schwitzte mit. Draußen bestimmten jetzt zu Kleinst-Reihenhäusern geformte schwarz-braune Klinker das Bild. Armut, Armut schlug die Uhr. Rauch, Ruß und Abgase verdichteten den Anstrich zur Farbe Dunkel. Treppenabgänge, Überdacht von gewelltem Plastik, führten in Gärten schmaler Grundstücke. Eine Idee von Zaun hegte den ausgetretenen Rasen ein. Zum Anfassen nahe. Hier und da ein Obstbaum. Einzeln. Vergilbt. Vielleicht Apfel, vielleicht Birne, vielleicht oder. Ein Ball neben der Sandkiste. Und überall: Wäschestangen. Aufgereiht. Angerostet. Weiße Laken tragend. Wie viel Dreck verträgt Weiß?

Hier, apart verblichene Fassaden eklektizistischer Bauten des Historismus! Zeugen der Erträge des Imperiums. Besitzanzeigend. Solide. Eben gutes Kapital. Stoisch und erhaben, ein wenig verlassen und angestaubt, sperre sich die Gründerzeit, nun in die Jahre gekommen, gegen ihre Entwicklung. Sie solle dem Erdboden gleichgemacht werden, bauschte sich ein leicht zotteliger, selbsternannter Touristenführer vor ihr auf. Sie hatte ihn nach dem hässlich anmutenden und senkrecht in die Höhe schießenden Betonherzen, dem Rohbau eines offensichtlichen Wolkenkratzers, gefragt.

Die NatWest, das Produkt der Fusion von 1968 aus District Bank, National Provincial Bank und Westminster Bank mache sich auf, ihre Potenz in das Universum zu eruptieren. Das Geld solle nicht nur fließen, es solle fliegen. Damit es sich vermehre, müsse es mit konzentrierter Kraft nach oben geschossen und über den Globus verteilt werden. Das da, das sei die Reinkarnation des neuen Kapitals. Sie solle sich das einmal vorstellen: Die drei Größten hätten in konzertierter Aktion, aufgegeilt und blind vor Eifer, beabsichtigt, den Turm 197 m hoch zu bauen. Das hätte jede Konvention für Hochbauten in der City gesprengt. Größer aber war der Ärger, als sie planten, das historische Bankgebäude von 1865 platt zu machen. Nun werde der Turm nur noch 183 m hoch und der Bau stehe auch noch. Indes, mit diesem Dreieck aus Pfeilen, also diesem Symbol der NatWest, hätten sie sich nun ein für alle Mal ein Denkmal gesetzt.

Worse than those days - er warf seinen Kopf mit einer kurzen Bewegung seitlich nach hinten, nach damals - those days of industrialisation, grummelte er und bat um etwas Geld für die Auskunft.

Schon wurde sie vom Strom der white-collar worker mitgerissen. Sie versuchte das Tempo aufzunehmen. Das der dunklen Anzüge und weißen Hemden mit Krawatten, der Aktentaschen und Hüte, des eingerahmten Make-ups durch Frisuren vom Friseur, das der dezenten Blusen in engen, knielangen Rücken, der fleischfarbenen Unterschenkel in dunklen Pumps, das der schwingenden Handtaschen in unnützer Größe. Aus Menschen wurden Leute: Schicke Leute, glatte Leute, schnelle Leute, knappe Leute, gerade Leute, lauter Leute, einfach Leute - Solitäre. Im Vorüberfliegen vornehm zurückhaltend ein kurzes How do you do? Hier und da flossen Wörter, wurde mit Bedeutungen gespielt, gelacht und ausgewichen, beschreibend sich genähert, wurden Avancen gemacht. Hingerissen, mitgerissen landete sie vor der Bank of England. Verwirrt und ausgesetzt.

Gegenüber, eingeklemmt zwischen den Bauten, fiel ihr eine hohe, schmale Glastür samt ausladendem Fenster auf. Eine Einladung, oder? Vielleicht. Nicht Restaurant, nicht Fast-Food, nicht Imbiss. Irgendwie von allem ein wenig, von nichts ein bisschen. Wohl ein Chinese. Schlicht. Billig. Selbstbedienung. Hunger trieb sie.

Am Ende des schlauchartigen Raums stand eine Theke, die, eingenebelt vom Dunst des Kochens, Küche von Raum, Arbeit von Genuss schied. Ungeschützt. Kein Gast, kein Kellner. Nur ein schmächtiger Junge schlich schweigend um die Theke. Ein magerer Koch zierlicher Gestalt nahm einen Wok vom Feuer, schüttelte ihn bis sich Fleisch, Paprika und Bambus im Sud wendeten, um sich herum tanzten. Sie schaute ihm zu. Beobachtete, wie er den Wok schaukelte und drehte und wendete, um und um mit einer Hand, sehnig und geschmeidig schnell. Dabei ihr seinen Rücken zugewandt.

Please?

Vor ihr ein erschöpftes Gesicht. Ein abgrundtief erschöpftes und für einen Moment ein vollkommen leeres. Nicht einmal der Schweiß seines Angesichts war ihm geblieben. Verflüchtigt in den Raum hing er nun in der Dunstwolke über der Kochstelle.

Ehm, ehm Chop Suey.
Wanna drink?
Thank you.

Wortlos nahm sie das Essen entgegen, zahlte und setzte sich. Es schmeckte nach allem und nichts, fettig, knusprig, ein wenig delikat, vielleicht. Und trotzdem wollte sie ihren Hunger stillen. Einen Hunger, von dem sie just nicht mehr wusste, welchen Ursprungs er war.


Abseits

Gepeinigt von der Enge ihres Daseins, des materiellen Überdrusses, gepeinigt von der herrschenden Zensur ihres Umfeldes, hatte sie sich als Jugendliche ein Leben in einem Bett fantasiert, das aus einem kunstvoll kreierten Messingrahmen bestand. Platziert am Mönckebrunnen, inmitten der Hippie Community. Inmitten illustrer, phantasievoll gekleideter bunter Menschen, die musizierten, das Leben genossen und mit der Erde verbunden waren, von denen eine unwiderstehliche Sehnsucht ausging. Eine Sehnsucht, die sie inhalierte, an der Birte unbedingt teilhaben wollte, irgendwie musste. Ein Bett, ein Königreich für ein Bett, das ihr zu dienen hätte: zum essen, schreiben, singen, liegen, schlafen, quatschen, lesen, zeichnen, flüstern, zum meditieren und Pink Floyd hören. Von dort würde sie das Leben aufspüren, das urbane, auf der Straße, frei von Ballast. Nur sie, als Satellit, umgeben von dem Schwarm, dem anonymen. Jederzeit in Kommunikation, nach belieben, jederzeit in sich zurückgezogen … meinte sie.

Am Ende des Tages im Selbstversuch, jedoch ohne Bett, ging sie nachhause mit einem wuseligen Bild von schmalen, breiten, fleischigen, knöchernen, proportionierten Fesseln, die abwechselnd mal in Strümpfen, zumeist schwarzen, mal in Perlonstrumpfhosen, zumeist fleischfarbend, oder nackt, von steifen Röcken gefangengehalten, auf Augenhöhe von links nach rechts und rechts nach links, zu ihr hin, von ihr weg, in großen Abständen, in kleinen Bewegungen eine chaotische Choreographie zeichneten. In ihrer Nase hatte sie das Gemisch von Hundeurin, Kaugummi, Zigarettenasche und Tabakstummel, Bier, Wein, Korn, Shit, von Deos, Parfüms, Schokolade, Ketchup, Eis, Wurst, Pommes und Staub. Sie fühlte sich klein und dreckig. Und sie war dreckig, ihre erste und einzige Jeans hatte sich in blau-grau-braun verwandelt. Und sie war klein, dem Lebensüberdruss der Hippies nicht gewachsen. Bunt doch zugedröhnt, in Patchuli-Schweiß gehüllt, hatte man sie belächelt und gelassen, allein. Sie mühte sich ab, den Menschen das Geld zu entlocken, konzentriert. Komplizierte Arbeit, die sie zum Ende des Tages nervös gemacht hatte. Es sollte so sein, dass ein Leben auf der Straße, in dem Zärtlichkeiten und Sex unter Betäubung stattfanden, ein Leben, in dem der Körper nicht mehr bedient werden konnte, ohne ihn schutzlos auszuliefern, ein Leben ohne Intimsphäre, ein Leben in der Hölle ist. Dreißig Pfennig hatte dieser Tag gebracht.

Abseits II

Ohne Orientierung schlug sie die Diagonale ein, folgte dieser über den Duke Wellington Platz in die Consitution Hill. Schnur stracks, immer weiter. Bäume, Büsche, Bänke sausten an ihr vorbei. Green Park, Buckingham Park, egal, das Tempo brachte Luft. Am Fuße zeigte sich der Buckingham Palast. Dort angekommen, umschlang sie ein Touristenpulk, bremste sie aus. Mit einer deutlichen Gegenbewegung entkam sie dem Sog, der zum House of Parlament und Westminster Abbey zog. Sie nahm reiß aus und bog in The Mall, legte wieder einen Zahn zu und verfiel in einen Stechschritt. Majestätisch wohlgeordnet strahlten weiße Fassaden linker Hand, säumten die breite Promenade, beherbergten The Royal College of Pathollogists, The Royal Academy of Engeneering … The Royal Society, … The British Academy. Tür an Tür, Stein an Stein, dezent, gleichförmig, langatmig schweigend. Auf der anderen Seite begleitete sie der St. Jamespark, der sich weitläufig und übersichtlich wie ein grüner Teppich vom Buckingham Palast gen Osten ergoss. Ein Blick zurück, da lag er der hochherrschaftliche Palast in seiner unaufdringlich kühlen Präsenz, eingebettet in dem sattem Grün dreier Parks. Geschmeidig strenge Bekundungen der Macht.

Erschlagen von Englands filigran-pompöser Hochkultur suchte sie vergeblich das vitale Leben, das chaotische, das benutzte, heruntergekommene, das schlichte, dessen barocke Auslassungen in dem Abgestoßenen seiner Ecken und Kanten bestand. Sie suchte den Ort, an dem Menschen Spuren hinterließen und musste doch erst noch durch einen weiteren königlichen Bogen, den Admirality Arch, und dann am Trafalgar Square vorbei, bevor die Straße Sand hieß und schmaler, normaler wurde, wie sie meinte. “Sand im Getriebe“ spielte Birte mit dem Namen der Straße, als sie sich am Lancaster Place von dieser abwandte, um zur Themse zu gelangen. Die Themse, der Fluss, die Orientierung. Über die Waterloo Bridge gelang sie auf die andere Seite, hoffte, sich irgendwo setzen zu können, hoffte, im Irgendwo ihre Seele streicheln zu können. Hoffte und machte sich auf, einfach der Straße nach, gelockt und abgewiesen von Betrieben und Büros, begleitet von Lieferwagen, Autos, Fahrrädern … Fußgänger kreuzten ihren Weg. Wie von selbst drosselte sie peu à peu ihr Tempo, gab sich dem Lärm hin, baumelte entlang der Hauptverkehrsstraße, an Schienen vorbei, unter ihnen durch. Aus der Waterloo Bridge wurde die Waterloo Road. Mit der Zeit veränderte die Straße ihr Gesicht, kleinere Häuser, Wohnblöcke, abgehende Einkaufsstraßen wechselten sich ab. Birte wurde langsam und langsamer, steuerte hierrauf zu, schwenkte um, gondelte dort hin und fand zuletzt diesen Chinesen in der Lower Marsh, nicht wissend, wo sie war.

Später wird sie gelesen haben, dass es sich um London Borough of Southwark handelte. Sie war in einem Stadtteil aufgelaufen, der zugleich im Angesicht und doch sicherer Entfernung der City of London, anfing, seinen Arbeiterkittel abzuwerfen. Schon an die dreißig neue Bürobauten gaben der Ecke ihr neues Gesicht. Und mit ihnen kamen andere Menschen, junge Menschen, bunte Menschen, grelle Menschen, schnelle Menschen, hier mal-da mal Menschen, und sagten den Arbeitern Adieu. Eine der großen Immobilienfirmen hatte bereits Anfang der 70er Jahre um die 12 Büros gebaut, aufgeteilt auf diverse Subunternehmen, geleitet von vier Direktoren. Man kannte sich, man legte los, die Ölkrise vor Augen wurde man nervös, suchte Anlagen, suchte Kapitalmöglichkeiten, auch jenseits der gewohnten Pfade, der Industrie, vor allem jenseits. Schwankungen der Weltwährung, des Dollars, schrien nach einem Ende des Weltwirtschaftssystem der Nachkriegsära. Der Kampf um Rohstoffe war entbrannt, England drohte die Pleite, Sozialleistungen, die Brosamen dieser Zeit, schienen nicht mehr haltbar, hieß es. Über Großbritannien hing das Damoklesschwert, im Juni 1975 folgte ein Referendum um den Verbleib in der EWG, man blieb. Nun musste man investieren, in Ölplattformen der Nordsee, in Atomkraft, in Immobilien. Bedingungen mussten her, mussten geschaffen werden. Es lag was in der Luft, Sommer 1975. Dieser ungewöhnlich heiße Sommer war geschwängert von durchgreifenden Änderungen. Alternativlos, offensichtlich. Für die einen eine Notwendigkeit, für die anderen das große Übel. Letztere setzten sich zur Wehr. Bereits im Winter 1972 hatten die Minenarbeiter über sieben Wochen gestreikt, ihnen folgten im Sommer die Dockarbeiter, vier Wochen lang. “Containisierung“ raunte man sich hier zu, Containisierung der Häfen versprach ungemütliche Zeiten. Anerkennungen, Sicherheiten standen kaum errungen wieder zur Verhandlung, sollten weggewischt werden. Man fürchtete um Gelerntes, Erworbenes, man sorgte sich. Dann 1974, da legten die Minenarbeiter noch einmal nach. Die Notwendigkeit der einen erzwang den Einschnitt in das Leben der anderen, den Einschnitt in die Gewerkschaften.

Abseits III

Draußen umwehte sie eine leichte Brise, zog leise über ihre Arme, schmeichelte ihrem Körper. Sie legte ihren Kopf in den Nacken und schaute nach Westen in die warm leuchtende Sonne. Nachmittagssonne im sanften Sound der Seitenstraße. Sie ließ sich von ihr streicheln und locken, zwinkerte ihr zu, bevor sie ihre Sonnenbrille raus kramte und aufsetzte, um die Sonne noch immer auf Abstand zu halten, deren gleißend heller Charakter ihr noch gegenwärtig war, wenngleich jetzt viel gedämpfter. Jetzt griff die Sonne nicht mehr an, hatte sich beruhigt, wie sie, wie Birte. Dennoch blieb die Sonne kraftvoll, stark und klar, nur wenig Dunst brach ihre Strahlen. Sie schien die Straße runter, leuchtete sie aus, herausfordernd, erzählte Geschichten, zeigte auf ihre Weise Birte die Stadt. Wich nicht von ihrer Seite, ließ sie nicht allein, bot sich ihr an, als Guide.

Das untere Ende der Lower Marsh war ruhig. Hier und da, ab und an kämpfte ein kleines Geschäft, ein kleines Lokal, mit seiner Müdigkeit. Der Tag hatte das Meiste schon gesehen. Die Laufkundschaft war weiter gezogen, aufgewehter Staub setzte sich langsam nieder, winkte ihnen hinterher. Von hinten kreischende Kinder, zwei an der Zahl, trudelten an Birte vorbei, mit Eis im Haar, im Tauziehen um die Cola, die einzige. Auf der anderen Seite zog einer seine Schiebermütze ins Gesicht, rückte sie gerade, erblickte Birte. Eine kurze Kopfbewegung. Er lud sie ein, in seinen Laden, zu sich. Sie schüttelte den Kopf, kaum wahrnehmbar, verneinend. Blickte die Fassade hoch. Sein Haus war größer, nicht zwei sonden dreistöckig. Gründerzeitbau mit Fenstern im Halbbogen, rotbraungelber Backstein, vom Schmutz angefressen. Mit jeder Minute, die sie das Haus anguckte, verblasste dessen freundlicher Charme. Zum Vorschein kam die Strenge der Verlassenheit, der Kärnerarbeit, körperlicher. Auch links und rechts, vorne und hinten. Birte drehte sich einmal um sich selbst. Die ganze Straße bestach durch ihre Schlichtheit, durch schmale Grundstücke, niedrige Bauten, ungeschönt, unverziert, unprätentiös aneinandergereiht. Ungebrochen schief. Hier hatte sich kein Baum, kein Strauch verirrt, hier lehnte ab und an grünes Gras, mal eine Geranie über einen der Balkonkästen, sich langweilend. Hier trug sich Geschichte ab, über Jahrhunderte.

Der Sonne entgegend, nicht zur Liverpoolstreet, zur Bahn, noch nicht nachhause, entschied Birte und lief gegen die Richtung, die sie hergeführt hatte. Die Lower Marsh ging hinter der Westminster Bridge Road in die Upper Marsh über und nach der Unterführung der Walterloo Station mündete diese am anderen Ende schräg rechts in die Lambeth Palast Road. Das Donnern der Lkws, Pkws, Motorräder irritierte sie, brachten sie zum stolpern. Birte versuchte die Straße zu überqueren, probierte erneut, gab auf und nahm auf der Höhe des Lambeth Palast Parks letztendlich die Ampel.


Begegnungen

Und noch eine Runde und die nächste und die nächste und die. Ich drehe mich an die Theke, ein Griff zum Glas im Vorübergehen. Mit der Trophäe in der Hand spaziere ich tanzend auf dich zu, dir in die Arme, in die offenen. Fast. Schüchterne Ausgelassenheit. Am Ende die Frage „zu dir oder zu mir“. Wir antworteten gleichzeitig. Lachen, lachen uns an, du nimmst meinen Kopf in deine Hände und hauchst, … mein Gott, wie schön du bist … und küsst mich. Diese Nacht macht uns schöner, mit jeder Minute, mit jeder Stunde. Unsere Schönheit färbt ab auf die Nacht, nicht auf die Jahre.

Bitte geh. Christians letzte Worte rollen die Straße hinunter, rollen mit der Sonne auf den Tisch, hüpfen an ihr hoch, klingen in ihr nach. Wortlos hatten sie das Boot geankert, waren ausgestiegen. Erst Christian, dann Grete. Er ging zum Zahlen, kam zurück, auf sie zu, nahm ihren Kopf in seine Hände und hauchte … mein Gott, wie schön du bist, unglaublich schön ... Er drückte sie, drückte sie fest, fester mit aller Kraft eines Liebenden, und ließ dann los, schlagartig. Geh, bitte geh.

Sich aufrichtend sieht sie die ältere Frau von vorhin. Sie kommt ihr, das Fahrrad schiebend, entgegen. Beladen mit Gemüse. Noch immer müßig leicht gebückt. Ihre kräftigen Arme, vom Wetter gebräunt, mit Sommersprossen übersät, halten das schwere, alte Gefährt in Spur. Erst streift das Vorderrad ihren Blick, dann folgt ein durchgesessener Ledersattel in Begleitung einer breiten Hüfte. Zeugnis alter Freundschaft. Ein ausgetragenes T-Shirt von unbestimmter Farbe flattert über ihren Rock, der formlos weit mit jedem Schwung um ihre Hüfte rutscht. Ihre Blicke trafen sich, kurz, abweisend fremd. Die Frau zog von dannen, behäbig ihrem Körper hinterher. Wie schön du wohl gewesen warst.


Der schwarze Kataraman

Dann Stille. Die Augen geschlossen, höre ich Musik. Sehe ich weite Wiesen und Ruhe und Unendlichkeit. Geigen erzählen vom Leben. Sie setzen sich ab, lassen das Spinett und die Bratschen alleine tanzen. Gemeinsam spielen sie, jeder in seinem Ton. Der Weiden-Bruch erklingt. Es sind die Weiden, die herunter geschnitten die Felder begrenzen, der Landschaft ihre Struktur verpassen. Inmitten von schimmernden Grasnarben versacke ich im im Ockergelben, dann im Grünen oder Braunen, vielleicht auch mal im Blauen wie der Himmel zwischen hell und bedeckt und verhangen schwankt. Im schnellen Wechsel der Zeiten bleibe ich stehen und atme Wind und mit ihm ein kleines bisschen Sein. Ein kleines bisschen. Ein kleines. Ein-Sein.

Tiefe Trauer pflanzt sich in all ihren Verästelungen fort, macht mich zum Baum. Geerdet, dass ich weiter gehen kann. Weit und breit kein Mensch, weit und breit kein. Ruhe. Kein Mensch noch Angriff. Kein Liebes-Müh noch Ver-Sagung. Kein Ver-Ständnis noch. Nur Trauer, die größer und größer in Placken den ganzen Körper erschüttert. Tränen fließen endlos in die Weite.

Der schwarze Katamaran segelt flussabwärts.



Fredericke

Unversehens fand sich Dorthe neben einer Fredericke auf der Hinterbank des Taxis wieder. Vom Fahrer durch die Glasscheibe, von Dirk durch die mittig sitzende Fredericke getrennt. Sie fühlte sich, sie war ihr ausgeliefert, dieser fremden Frau, in diesem fremden Land, das eigentllich ihres sein sollte. Dorthe wurde übel. Dirk hatte seine Freundin mitgebracht, seine Neue. Nun waren sie zu Dritt. Auf dem Weg zum Hyde Park. Die Sightseeing-Tour, wie sie es geahnt hatte. Eine fast komische Situation. Nur lachte Dorthe nicht. Konnte nicht. Neben Dirk und Fredericke wurde sie dumpf, die Situation befremdend real. Paralysiert, ohne Gespür, ohne Gedanke, wie sie, was sie fühlen sollte, kam ihr alles gleichermaßen albern vor. Dirk hatte am Telefon keine Silbe von sich gegeben, dass eine Neue mitkäme, seine. Dass Fredericke. Dass Dirk. Allein die Vorstellung einer neuen Freundin lag im Jenseits, sie mitzubringen noch abwegiger. Dirk hätte doch wissen müssen, wie verletzlich so ein Treffen sein kann, sein würde, ist. Auf einmal wollte sie ihn gerne noch einmal alleine für sich, für diesen Moment, für immer. Tränen stiegen auf. Trotzig schluckte sie diese runter, schickte sie in ihren Schlund. Dorthin, wo die Tränen zu einem spitz-scharfen, mehrkantigen Kristall erstarrten. Dorthin, wo dieser sich sofort als Keil in ihre Brust bohrte, der von nun an jede ihrer Bewegung dirigierte. Ruckartig und vorsichtig zugleich, dass er sie nicht schneide. Aufschneide von innen, sie verbluten ließ. Zirkelnd drehte sie sich mal nach links, mal nach rechts, als sei sie neugierig, interessiert, als kommuniziere sie. Beugte sich nach vorne, zackig ohne Eleganz.

Als sei sie freundlich, erkundigte sie sich bei Fredericke nach dem Flug, der Unterkunft und so, keilte sich zurück ans Fenster, stierte hinaus, als sei sie Dorthe, als sei sie. Die Stadt als Unbekannte rauschte an ihr vorbei, unterdessen der Kristall in ihren Kopf vorstieß. Immer höher, immer schneller, immer fester. Unerhörte Schmerzen tobten, stimmten in ein klirrendes Hauen und Stechen, entwickelten sich zu einer hardcore Party, ohne sie, ohne ihr Einverständnis, ohne ihre Vollmacht. Ohnmächtige Wut wandelte sich in Nervosität. Erst juckte sie sich, dann kratzte sie ein wenig ihre Unterarme, nur ein bisschen, dann ein bisschen mehr, ein wenig doller, an bestimmten Stellen heftiger bis innere Genugtuung einsetzte, für einen Moment.

Die Fahrt dauerte, dehnte sich aus, nahm noch eine Kurve und die andere. Über Umwege erreichten sie schließlich den Hyde Park am Eingang Marble Arch.

Der Hitze des Autos entkommen, lief Dorthe schnurstracks in den Park, krempelte ihre Bluse über die blutenden Unterarme, setzte ihre Sonnenbrille auf, blieb stehen, drehte sich um und sah die Beiden auf sich zu schlendern. Ihre Köpfe in die Gegend drehend und in die Luft, London genießend vergnügten sie sich, jeder für sich und beide miteinander. Dorthe hielt Abstand. Noch immer hatte sie kein Gefühl, keinen Namen für das hier. Die Sonne sengte. Pochte auf sie ein, sie möge ihre Rolle finden. Schnell, zügig, jetzt. Die Situation blieb namenlos verwildert, mit ihr als Herausgefallene aus der Welt, einer selbstgebastelten.

Vor ihr die unerbittliche Strenge des Rasens. Weitläufig grün, kurzgeschnitten, gleichmäßig akkurat. Asphalt unter ihren Füßen zeichneten den Weg. Einzelne, karge Bäume, die vom grellen Licht gebrochen, exakte Schatten warfen. Hier war sie nun. Das war ihr Raum, ihre Wirklichkeit. Hier wird sie bleiben und die Beiden werden gehen. In ein paar Stunden, vielleicht noch nicht mal einer. Sie wird bleiben, alleine, für immer ohne Dirk.

Speakers Corner hinter sich lag vor ihr eine Einöde an Park. Verloren in sich, nahm sie die versprenkelten Touristenpulks kaum auf, nahm nicht wahr. Nichts. Die Sonne brannte. Brannte das Bild gleißend endloser Ödnis, geatmeter Ist-Zeit, gelebten Stillstands in ihr Gedächtnis.

Wir könnten gerade aus und bei dem Mosaik schräg links runter zum See. Wir kämen direkt im Knick der Serpentine an und könnten dann auf der anderen Seite des Ufers bis zum Lido laufen. Oder wir schlängeln uns beim Mosaik geradeaus weiter zum Ufer, müssten dann aber über die Brücke, wenn wir zum Lido wollen. Dirk fuhrwerkte mit seiner Karte hinter ihr, wollte nicht aufhören zu reden. Sie wusste es, er hatte einen Plan gekauft, er hatte ihn studiert, er hatte Alternativen erarbeitet und musste diese darbieten. Präzise wie er nun mal war. Es gab Zeiten, da hatte sie ihn dafür knutschen können. Da wirkte dieses “Wir-können-dies-machen,-was-zu-dem-und-dem-führt-oder-wir-machen-das,-was-das-und-das-bedeutet” so erfrischend und einleuchtend, niemals langweilig. Damals lichtete es ihr Chaos. Damals. Das war damals. Das war.


Dirk

Wie geht es? Beide prusteten. Du zuerst.
Nein, du.
Ja, ich arbeite immer noch bei der Versicherung. Ich habe dort meine Sicherheit, mein Auskommen halt. Das hat sich nicht geändert. Du kennst ja die Lage. Als freier Anwalt müsste ich viel mehr schuften. Ich müsste mich um Klienten kümmern, mich profilieren … na ja in einer Weise halt vermarkten. Die Wirtschaftskrise mit einer Millionen Arbeitslosen gibt uns nicht viel Spielraum. Da haben Versicherungen Zukunft. Ach, ich weiß nicht, ich brauche einfach Sicherheit. Auch im Hinblick auf eine Familie …
Du willst Familie? Ich glaube es nicht!
Natürlich. Das wollen wir doch alle. Aber du wahrscheinlich nicht. Dirks Stimme fiel von hoch oben runter.
Ich weiß es noch nicht, ernsthaft. Ich bin ja noch nicht einmal richtig hier angekommen. Mit meinem abgebrochenen Studium. Das müsste ich erstmal wieder aufnehmen, oder was Neues anfangen, bevor ich überhaupt an Familie denken kann.
Was machst du jetzt?
Ich arbeite in einem kleinen Kontor als Schreibkraft. Das kann ich doch gut, wie du dich sicher erinnerst. Dorthe guckte Dirk schelmisch an.

Ja, ich erinnere mich …, hauchte Dirk, schlagartig traurig. Er drehte sich seufzend zur Seite, kam zurück und nahm den Faden wieder auf , … ja, ich erinnere mich. Ich konnte damals aber nicht in der Anwaltskanzelei bleiben. Das Referendariat ging zu Ende, ich wurde nicht übernommen, und überhaupt, du kamst mit deinem Studium auch auch nicht zu Potte. Dirk beschleunigte seinen Schritt.
Das stimmt.
Und eines wollte ich ganz sicher nicht, Dirk blieb stehen und postierte sich vor Dorthe, ich wollte keine Kanzelei, in der du als meine Schreibkraft endest. Und danach sah es verdammt aus. Wenn überhaupt wäre ich damals gerne als Angestellter von einer Kanzelei übernommen worden. Und ja, bevor du irgendwas sagst, ich wollte, ich wollte … ach was.
Hey, es tut mir Leid.
Was tut dir Leid? WAS?
Dorthe schwieg in den Boden, Dirk in die Ferne.
Wolltest du schon immer Famlie? … Auch mit mir?, fing Dorthe an, vorsichtig fragend, sanft, fast zärtlich.
Ja, Herr Gott nochmal, was ist denn daran so schlimm?, Dirk fuchtelte hilflos mit den Armen. Dorthe schwieg, nun in die Ferne. Und setzte neu an.

Ich lebe jetzt in Norwich in Norfolk. Wohne dort mehr am Stadtrand in einer Zweiraum-Wohnung. Klein und hell. Das ist o.k. Die Stadt gefällt mir auch. Sie ist so etwas wie eine Hauptstadt der Grafschaft „Norfolk“, deren Name auf die Zeit der Angeln zurückgehen soll. So im fünften Jahrhundert nach Christus. Die Menschen im südlichen Teil Ostenglands wurden „Südvolk“ genannt, das heutige Suffolk, die im nördlichen Teil lebenden „Nordvolk“, das heutige Norfolk. Frühe Funde weisen allerdings auf eine keltische Besiedlung zwischen dem ersten Jahrhundert vor und dem ersten Jahrhundert nach Christus. Die Kelten unterlagen später den Römern, die wiederum den Angeln weichen mussten. Schon die Römer entwickelten eine vielseitige Landwirtschaft und betrieben Handel über ihre Häfen entlang der Küste. Die Siedlung, jetzt infolge der normannischen Eroberung … man muss aufpassen, dass man nicht durcheinander kommt, das hat schon was von dem Spiel „Länderklauen“ … war um 1000 nach Christus einer der dicht besiedelsten Orte Englands.

Kennst du das noch, das Spiel? , fragte Dorthe unvermittelt und Dirk antwortete mit einem breiten Grinsen. Beim Spiel ging es in Wirklichkeit nur um einen Landgewinn, führte Dorthe weiter aus, unbeirrt. Die realen, echten Eroberungen sind eine Form, mit der sich Menschen niederließen und Entwicklungen voran schritten. So enstand Leben … diese Siedlung jedenfalls brachte die Stadt Norwich hervor. Am Fluss Wendson gelegen, ist sie durch diesen und weiter ostwärts durch den Fluss Yare bei Great Yarmouth mit der Nordsee verbunden. Ein Hafen, der noch heute aktiv ist … Also, geschützt gelegen und trotzdem mit dem Meer verbunden, zusätzlich umgeben von ertragreichen Böden, blühte die Stadt auf, wuchs im Mittelalter zur zweit größten Stadt Englands heran. Sie wurde eine Manufaktur- und Handelsmetropole für Textilien. Ein Zentrum der Weberei, wie ich es verstanden habe. Als dann mit der Industriealisierung die Entwicklung vollmechanischer Webstühle aufkam, gab diese Region ihre Bedeutung an Englands Nordwesten ab. Mein Rundgang durch das Bridewell-Museum zeigte, dass 1845 Norwich 428 vollmechanische Webstühle vorweisen konnte, während es in Yorkshire 31000 waren. Und das, obwohl sich Norwich entlang des Flusses, die hügelige Landschaft im Rücken, zur Ebene hin ausbreitete und somit über viele Wassermühlen verfügte. Eigentlich waren die Voraussetzungen zur Industriealisierung gegeben, waren doch damals die Manufakturen direkt mit einer Mühle verbunden, vor allem die Webereien. Hattest du drauf, dass deshalb im Englischen Fabriken auch „Mühle“ genannt werden, also „mill“? You remember „steel mills“? … Eine der Mühlen, die St James Mill, existiert auch heute noch … Doch Norwich konnte damals der Konkurrenz nicht standhalten. Denn mit der Entwicklung der Dampfmaschinen wurde die Energieerzeugung unabhängig von den landschaftlichen Voraussetzungen. Diese Entwicklung begünstigte den rohstoffreichen Nordwesten Englands als Industriestandort. In Norwich investierte man anstelle dessen in Lederverarbeitung und in Brauerei.

Was du nicht alles weist, neckte Dirk.
Ja, eigentlich ist es eine ganz interessante Stadt, hörte sich Dorthe antworten, unmerklich unter Druck. In Dirks Gegenwart wurde sie korrekt, überkorrekt. Schon immer. Immer schon. Nun wieder. Sie wollte von ihm Ernst genommen werden. Anerkannt, ihn begeistern, interessieren. Aber irgendwie. Sie zuckte mit den Achseln und suchte ein neues Thema, wie immer, immer wieder.

Wusstest du, dass am 26. Juni 1942 die deutsche Luftwaffe Norwich mit etwa 40 V2-Rakten bombardierten und eine Schneise der Verwüstung hinterließen? Als Rache für den Luftangriff Englands die Nacht zuvor? Sie „statuierten ein Exempel“, dachte Dorthe, wie Vater zuhause gerne mal ein „Exempel statuiert“ hatte, dass einem das Blut in den Adern erfor. Wusstest du das?, setzte sie nach, sich selbst absichernd, fuhr trotzdem unsicher, wackelnd fort. Dieser Teil Englands wurde erbarmungslos angegriffen. Einmal sagte ein Kollege zu mir, „Dir und deiner Generation mache ich keinen Vorwurf; ihr seid ja Nachgeborene“. Bitter, in einem vollkommen bitteren Tonfall kam es aus ihm heraus. Und ich? Ich fühlte mich total überfordert. War dankbar, dass er mich aus dem Schlamassel raushielt, zugleich beschämend, aber irgendwie machte mich diese Gnade auch wütend. So so, welche Story tischt du mir nun auf? Dirk schaute sie leicht belustigt, ungläubig-skeptisch von der Seite her an.

Ja, ein wirklich schöner Ort, wich Dorthe aus. Von Norwich nach Nord/Nord-Osten bis rum nach Great Yarmouth, dort weiter noch in den Süden erstreckt sich Englands größtes Feuchtgebiet mit circa 200 Kilometern befahrbaren Gewässern. Die Norfolk Broads. Erinnert mich an Holland, nur dass die Broads knapp über dem und nicht unter dem Meeresspiegel liegen. Wenn du dir Bilder von oben anschaust, siehst du die grünen Fladen, wie die sich durch blaues Gewässer winden. Ein Muster, bei dem du dir nie sicher sein kannst, ob das Wasser oder das Land die Matrix darstellt. O.k., im Winter sind die Fladen eher braune oder weiß … ich habe ja auch nur Bilder gesehen. Ursprünglich handelte es sich wohl um eine Moorlandschaft. Jedenfalls soll im 13. Jahrhundert zum Heizen Torf gestochen worden sein, so dass man heute eine Wasser-Sumpf-Schilf-Waldlandschaft vorfindet. Du kannst hier stundenlang bootfahren, spazierengehen, fahrradfahren, chillen, picknicken, dich sonnen, im Gras liegen, lesen, träumen.

Norwich hat viele Parks und trotz der Angriffe seinen mittelalterlichen Stadtkern erhalten. Man sagt sogar, dass dieser der vollständigste Englands, ach sogar Großbritaniens, sei. Das sagt man auch von dem Straßenmarkt vor dem Rathaus … Wenn ich Zeit habe, schlendere ich durch die Gegend, schaue mir alles so an … war als erstes in der Kathedrale, die so zwischen 1095 und 1145 im normannischen Stil erbaut wurde und als eine der best Erhaltensten dieser Epoche gilt. Diese soll ihren Namen nach den normannischen Eroberern erhalten haben, weil sie die romanische Bauweise vom Kontinent mitbrachten. Die Kathedrale ist schon ein irrsinniges Konstrukt mit acht Altären. Wenn du das Bauwerk betrittst, laden dich ein Längsschiff von circa 140 Metern, weitläufige Seitenflügel und ein Turm von 96 Meter Höhe in eine Welt strenger Ordnung, geistiger Ergebenheit. Über Jahrzehnte gebaut, dann in Teilen durch Feuer und Verwüstungen zerstört, einiges davon im Perpendicular-Stil erneuert, anderes gotisch versetzt rekonstruiert, trägt es uns durch die Jahrhunderte. Spendet Trost, gibt Zuversicht, bestätigt unser Selbst. Angeschlossen ist ein Kloster … ach und vieles mehr. Ich fange gerade erst an, die Impressionen zu verarbeiten, es gibt so ungeheuer Vieles zu entdecken. Vieles ist in sich so ruhig, deutlich und verlässlich. Anregend leicht. Die Stadt und ihre Umgebung … und dann fahre ich an den langen, langen, langen Sandstrand, ans Meer bei Great Yarmouth oder Gorleston-on-Sea und lasse meine Seele baumeln. Als wäre es das erste Mal … gewinne traurige Klarheit. Dorthe verfiel in einen Summton ungewohnter Heiterkeit, leichter Melancholie.

Hm, sie holte Luft, ich weiß gar nicht, wie groß die Stadt ist, wieviel Einwohner es gibt und so … aber ich würde sagen, sie hat die Größe einer gediegenen Kleinstadt, wie wir sie kennen, wie, wie … Göttingen. Ja, und Norwich ist genauso eine Universitätsstadt. Seit den 60ern, meine ich. Das macht das Leben spannend. Vielleicht greife ich das Studium wieder auf, später einmal. Mal sehen, ob sie auch Kunstgeschichte anbieten. Sonst müsste ich weiterfahren. Nach Colchester oder London? Ist ein bisschen weit weg … aber Norwich ist gut erschlossen. Ja, seit 1849 existiert von Norwich nach London die Bahnverbindung. Die Bahn, mit der ich auch gekommen bin. Stell dir vor, Norwich hat auch einen Flughafen. Wohl einen kleinen, für Hubschrauber, der vor allem den Transport zu den Bohrinseln abwickelt. Und, tatsächlich bin ich heute morgen einem Ölarbeiter im Zug begegnet. Robust, rau, trocken … strenges Leben auf der Bohrinseln, bringt wohl gutes Geld, sagte er. Hier ist der Druck größer als in Deutschland. Hier habe ich das erste Mal in meinem Leben Obdachlose gesehen. Kein schöner Anblick und ganz sicher kein schönes Leben. Beängstigend, weiß nicht, was da auf uns zukommt. Aber es hat was von Ehrlichkeit. So funktioniert halt Kapitalismus. Hinten muss mehr rauskommen als man vorne reinsteckt.

Dorthe schob ihre Unterlippe nach vorn und schlackerte mit ihren Armen. … Irgendwie erzähle ich gar nichts von mir, aber doch, das ist das, was ich hier aufgetan habe, um das ich mich gekümmert habe, die Schritte der ersten Verortung. Ich lerne die Stadt, die Gegend kennen. Streife durch sie hindurch, pflücke Bilder und folge ihrem Klang, habe den Frühling geatmet, den Sommer gesummt, den Herbst getrunken und den Winter berührt. Ein Jahr einmal rum … Dorthe hing ihren Gedanken hinterher, wurde sanfter, kam zu sich. Stolz mischte sich hörbar in ihre Stimme, ihre innere. Sie atmete tief, atmete auf.

Während Dorthe in ihrem Leben versank, versank Dirk in ihr, legte seinen Arm um ihre Schulter.
Und du? Einmal abgesehen davon, dass du auch noch in dreißig Jahren bei deiner Versicherung bist, endete Dorthe ihre Performance ohne sich aus seinem Arm zu winden.
Nun, naja, wie du siehst, Dirk lächelte verlegen, Röte stieg ihm ins Gesicht, ein wenig, ich bin jetzt wieder mit jemanden zusammen.
Mhm, sehe ich … und gut? Seit wann?
Hm, ein kurzes Räuspern, noch nicht so lange …
Aha, nicht so lange … schüchtern oder peinlich?, Dorthe neigte ihren Kopf.
Mhm, ein kurzer, leicht verschmitzter Blick von unten in Dorthes Gesicht, beides.
Mmm, erwiderte Dorthe in verschmitzter Kränkung.


Lyrik

moment der party

dann du
direkt vor mir
jongliere ich das glas

das glas zwischen uns

langsam lange
füllen Blicke den Raum
leise die Begegnung

das glas steht

den Kopf geneigt
mein ist Körper bereit
in dir, mal in der Welt
doch kurz ein Hieb und schwupps

das glas kippt

alle Wörter
fallen
fallen
fallen,
zerfallen
in buchstaben

zwischen uns
zerbröseln wahrheiten
zu mustern.

BEGEHREN

komm,
sing mir
ein kurzes lied der liebe

weist du eigentlich,
was für eine warme
ausgedehnte Landschaft
hinter deinem blick ruht

weist du eigentlich,
wie gelbgoldbraun
bernsteinschimmernd
deine Augen erzählen

weist du eigentlich,
wie schön du bist! weist du
eigentlich.

einmal
liebe erfahren
wie sie sein könnte

einmal
jenseits der vorsicht
glücklich sein

einmal
ohne verletzung
lieben

einmal
einfach

trauern.

im aufeinander
ineinandertreffen
erzeugter strudel
sich überschlagen
interferieren
keinen Einhalt gebieten

wieder blutend
fließende wunden

der angst trotzen
am rande der ohnmacht
gefühle

im abgrund die liebe

ruhig blut ruhig
fließe deine Bahnen

ich schreibe dir mein Glück
ich schreibbe dir mein Glück
ich schreieibe dir mein Glück
ich schreie dir mein Glück

Was ist der Mensch, dass er Gefühle hat!

War ich noch dieselbe, die unter der Woche, der Liebe nicht satt werden konnte,
die in ihren Zweigen hängen blieb und sich auf den Wipfeln ausruhte,
die sich der Liebe im Rausch des immerwährenden Fluss der Leidenschaft hingab?

Jetzt sitze ich vor den Trümmern meiner Leidenschaft. Kalt starrt sie mich an.

Nun mein Freund, was ist geschehen?
In Kürze: „ „.

Nach(t)gespräch

Das ist schon ein wundersames Ding. Die Macht. Die Liebe.
dort, wohin dein Angriff zielte,
blieb
ich unverwundbar
-
Ich wollte dich.

Mir in die Arme. Dir ins eigene Messer.
dein Machtwille
zerbrach, verlor
ihre Kraft
-
Ich wollte dich.

Ich wollte dich.
Ich wollte dich.
Dass ich dich stehen ließ.


Traumspiel

Der Elbe den Rücken kehrend, verließ sie den Anleger Teufelsbrück und schlenderte zum Jenischpark. Getragen von dem saftig grünen Hügel, schlängelte sie sich auf dem Pfad entlang des Flottbektals über die Knüppelbrücke zum Jenisch Haus, fügte sich in die Gruppe von Studenten der Kunstgeschichte. Entfernt blecherte die dozierende, über die Jahre ausgetretene, monoton stumpfe, strenge Stimme des Professors.

Sie stehen hier vor dem … diente der Familie des Hamburger Bausenators Martin Johan Jenisch, der von 1793 bis 1857 lebte, als Sommersitz … mit Beginn des 19. Jahrhunderts entstandenen Landsitze des Hamburger Großbürgertums … klassizistische Bau, in weiß gehalten … Plänen des Architekten Franz Gustav ForsMann, 1795 bis 1878 … Beratend … Karl Friedrich Schinkel, 1781 bis 1841 ….

Satz für Satz zog sie sich aus dem Bild der Gruppe an deren Rand. Ihre Augen wanderten durch den Park, den Hügel hinab, runter zur Elbe, die ein wenig schräg durch die Landschaft floss. Das Bild teilte sich in oben und unten, trug feierlich ein Containerschiff durch die Gegend.

Die Gruppe zog weiter. Aus der Ferne wippten nun halblanges, dunkel-braunes Haar auf sie zu. Die Schultern leicht heruntergebeugt, den Kopf ein wenig schräg zu Seite blinzelte verschmitzt Jakob, der Kunstlehrer. Jakob, flüsterte sie erstaunt. Dann kamen sie von überall und liefen mit Rantzen auf dem Rücken und Turnbeutel, flatternd in der Hand. Albert, Bernd, Christian, Dörte, …, Frida, …, Helga, Inge, Jürgen, Klaus, …, Manfred, Norbert, Olga, Petra, Reinhard und Susanne, …, Uwe, Volker und Yvonne. Hallo, ich bin es, Nora, hallo … hörte sie sich rufen. Einfach so. In die Menge, die da tobte. Die im Spiel, sich die Turnbeutel schnappten und, Trophäen gleich, in der Luft wirbelten. Sie kam hinzu, stellte sich zu ihnen, vor sie, vor irgendwen. Hallo, ich bin es, Nora, hallo. Sie reichte ihnen ihre Hand. Schwupps, der nächste Beutel streifte ihren Kopf. Die Kinder kreiselten weiter, weiter um sich selbst. Schwupps, der Beutel ging verloren, hier der nächste, schwupps. Hallo, ich bin es, Nora, hallo. Ihre Hand griff durch die Kinder durch, schwupps, der Beutel, schwupps … und schon verteilten sie sich auf dem Schulhof. Kleine Gruppen, hier die Mädchen, dort die Jungs, hier Gekicher, dort besprochen, Strategen am Werk. Wer hat sie verdient, die Aufmerksamkeit? Wer darf niemals in die Gunst? Wen möchte man berühren, unerkannt? Wer soll einen sehen? Wem sollte man sich offenbaren? Wem geht man besser aus dem Weg? Wer soll einen entdecken? Wem gilt diese Inszenierung? Hallo, ich bin es, Nora, hallo.

Ach, was scherte sie die Turnbeutel. Was scherte sie Albert, Bernd, Christian, …, Jürgen, Klaus, …, Manfred, Norbert, Reinhard, …, Uwe und Volker, die allesamt in brüchigem Klang den Chor anstimmten? Deren unbeholfene Glieder sich verzettelten? Die im Vorübegehen ihr ihren ersten Flaum zum Kuss anboten, kurz und verschämt, diffus? Was scherte sie der Reiz, dass sie, wie sie um sie warben? Hier eine Geste, dort ein Angebot, Augenleuchten, keckes Kitzeln, plötzlich unerwartet, fast ein Lächeln, bleibend. Was scherte sie das hoffnungsfroh Gespannte? Was scherte sie deren Lust? Was scherte sie ihre eigene.


das alter bückt sich und verneigt sich vor sich selbst

ein blick – ein nicken
abgeglitten, angesogen
von der erde
suchend - ausschau haltend
schauen wir nach mehr

noch im fluss
krümmt sich der rücken
eingerollt, gehorchend klein
zweifeln wir am gestern

füße - stampfen stoßen ab
schmeißen rückrad hoch und nieder
bäumen auf - einer jungen weide gleich.

hoffnung auf einen roten faden
wurde betrogen, wurde verraten
blicken runter runter - nicht hinaus
finden reste an erfolgen
heben auf und sammeln sie.
muster sollen sie ergeben
und so werden wir sie kleben
nicht erkennbar, also falsch
- sagen manche -

ein blick – ein nicken
abgeglitten, angesogen
von der erde
suchend - ausschau haltend
schauen wir am ende auf
ein brauchbares – bitte sehr


Großmutter

Die Großmutter saß zumeist an der kürzeren Seite des Ecksofas, damit das Licht vom Fenster auf ihr Buch fiel. Sie war eine Große-Mutter; ungleich viel größer, ungleich viel breiter, ungleich viel wortkarger, ungleich viel mächtiger als meine Mutter. Sie trug ihre Aura, sie ließ sich nicht von ihr umweben, sie trug sie stoisch streng, unnahbar in ihrer Güte. Doch wenn sie lachte, lachte sie in den Raum hinein, ansteckend befreiend. Ein heiteres, Wellen erzeugendes, klangvolles, helles Lachen. Ihre schwere Brust ging auf und nieder, wippte mit, dehnte sich aus, erfasste die ganze Welt, umarmte diese und nahm sie lachend in sich auf. Sie lachte aus ganzem Herzen. Die Große-Mutter, die keine Kinder mehr bekommen würde, deren Haushalt schnell getan war, weil dieser aus Brotkuchen, Pfannkuchen oder Kartoffelpuffer bestand und einem Herd, der, weil er mit Kohle geheizt wurde, immer an war. Kein offenes Feuer durch Gas, kein Aufpassen müssen: stattdessen ein Hocker und eine Übersicht über die schwarze Fläche, die für alles Wesentliche in der Küche Platz zu haben schien. Für die Feuerung war der Großvater zuständig, der ab und an die schweren schwarzen Ringe mit einem Feuerhaken beiseite schob, um das Feuer mal mit einem Holzscheit, mal mit einem Brikett anzuheizen. Langsame Bewegungen nahmen meine Augen mit, sie lehrten mich das Gucken als ein genaues Schauen auf sein Tun. Seine Muße forderte mich auf, meinen Blick auf das kraftvolle, gebannte Feuer zu richten und darin zu versinken. Das Knistern des Feuers, die unsteten Bilder seiner Bewegung, der rotgelbe flackernde Schein erzählten die Geschichten der Welt. Wenn Großvater die Feuerstelle schloss, schob er die gusseisernen Ringe wieder über die Feuerstelle. Diesmal rückwärts, mit dem Größten beginnend. Der Ausschnitt von dem lodernden Feuer wurde kleiner, die Flammen gepresst, die Bewegungen des Feuers stürmischer. Mit jedem weiteren Ring wurde das Schauspiel undurchsichtiger, die vielen Flammen schmolzen zusammen, wurden runder und kompakter bis das Feuer am Ende nur noch aus einer Flamme bestand, bevor zuletzt eine flache gusseiserne Scheibe alles abdeckte. Friedfertigkeit breitete sich in der Küche aus. Meine Anwesenheit erschien mir als unabdingbare Hilfe, ohne die der Großvater sehr einsam gewesen wäre, ohne die die Großmutter wahrscheinlich kaum einen Pfannkuchen, Brotkuchen oder Kartoffelpuffer gebacken hätte. Meine Hilfe bestand in meiner Anwesenheit, in meiner Existenz und sie allein ließ die Welt schneller laufen. Für jeden von uns.

Vor ihr auf dem Tisch wurde das aufgeschlagene Buch gehalten von einem Ständer, in ihrem Schoß klapperte gleichmütig das Strickzeug zwischen ihren Händen – so saß Großmutter strickend lesend aufrecht im Nachmittagslicht und nichts lenkte sie ab. Selbst meine Anwesenheit wurde Bestandteil eines solchen Nachmittags. Eingewebt in Großmutters Beschäftigung bekam ich ebenso eine: mal etwas zum Malen, mal etwas zum Spielen, mal Illustrierte zum Bilder anschauen. Ich saß dann auf dem langen Teil des Sofas, dem Graumelierten, auf dem die Großeltern bei Nacht schliefen. Vor mir erstreckte sich ein langer brauner Tisch, geschmückt mit einer Vase. Saß ich vorne an, konnte ich den Kopf ein wenig schräg links haltend über den Tisch blicken, dessen Ende durch die Vase versperrt wurde. Schaute ich, während mein Kopf noch in der Schräge lag, gerade aus, sah ich in der gegenüberliegenden Glasscheibe des Wohnzimmerschrankes das Spiegelbild des Fernsehers. Setzte ich mich nach hinten, mit dem Rücken an die Lehne kamen meine Füße nicht auf dem Fußboden an. Dieser Umstand reizte mich, auszuprobieren, was ich sonst noch alles mit den Beinen anfangen könnte. Hockend, seitlich die Knie auf dem Sofa, den Oberkörper halb auf den Tisch liegend, nach hinten rutschen, um zu sehen, um wie viel die Füße über die Sitzfläche ragen - hin und wieder wurde mein Körper von einer kindlichen Unruhe überfallen, die sogleich durch Großmutters körperliche Präsenz aufgesogen wurde. In solchen Momenten legte die Große-Mutter ihr Strickzeug beiseite, wechselte ihre Brillen und erzählte von Früher. Ein gewaltiges Früher, das ich hinnehmen musste, denn ich würde es nie, nie in meinem Leben erfahren. Welch eine Kränkung! Sie konnte nur durch die mystisch anmutenden Gegebenheiten, die Großmutter erzählte, ihren Trost finden. Die Geschichten von dem riesigen Garten und ihrem Haus in dem anderen Land, das sie verlassen mussten, waren nicht die Interessantesten. Die Großeltern besaßen jetzt wieder einen Garten, einen Schrebergarten in der Stadt, der nun auch mir gehörte, mit dem ich mit ihnen verbunden war und selbstredend war er riesig. Der Apfelbaum, der nicht nur mittig stand, war von einer derartigen Höhe, die mir die Sicht auf seinen Wipfel versperrte. Und ich hatte selbst einen kleinen Garten mit einem kleinen Jägerzaun und einer Tür. Der sich hierin befindliche Apfelbaum war niedriger, überschaubarer aber mit einem sauren Apfel behangen. Sie nannten ihn Boskop. Interessanter waren die Erzählungen über die Zeit, in der alle Menschen arm waren. Eine Zeit, in der meine Großmutter mit einer Reisetasche voll Geld zum Milch holen ging. Diese Dimension überstieg meine Kräfte, konnte ich selbst kaum Anfang und Ende einer Reisetasche überblicken, wie hätte ich denn in dem Damals überhaupt Milch holen können? Wie viel Papiergeld fand denn überhaupt Platz in dieser Reisetasche? Und - trug die Große-Mutter die Milch in der Reisetasche mit nachhause? Wo verstaute denn die Verkäuferin das ganze Geld? Lag dies wie ein Heuhaufen ausgebreitet hinter der Theke? In einem war ich mir sicher, die Große-Mutter konnte das alles, das Zählen, das Tragen, das Bezahlen, denn sie war klug. Von ferne hörte ich die düsteren Malungen der Armen, von Arbeitslosigkeit, Weltwirtschaftskrise und Geldentwertung war die Sprache. Wörter, die ich aufnahm, in dem ich sie mir ausmalte, bei denen Arbeitslosigkeit zu einem Meer von Menschen anwuchs. Fremde Menschen. Menschen, die sich in ihren dunklen Mänteln furchtbar langweilten, weil sie herumstanden, weder spielten noch sich unterhielten, einfach nur dastanden. Es war für mich eine Art der Langeweile, die ich ob ihrer Abstraktion nicht auffüllen konnte, wohl aber, dass diese Menschen wenig zu essen hatten und vor allem kein Geld, also auch keine Reisetasche voll Geld. Sie bekamen Marken, was ich für ungleich viel praktischer hielt. Großmutter wuchs in meiner unendlichen Achtung, denn sie kannte sich aus in ihrer Zeit: neben der Geldmenge in den Taschen und der Arbeitslosigkeit, die offensichtlich geldlos war, bestand ihre Zeit aus etwas, was sie eine Weltwirtschaftskrise nannte. Das besondere hieran war, dass ihre Zeit aus einem speziellen Tag bestand, dem 25. Oktober 1929, einem „Schwarzen Freitag“ , der die ganze Zeit, die ganze Welt, das ganze Sein erfasste. Die Welt, dieser allumfassende Raum, war gefüllt mit Wirtschaft und nichts Anderem. So fügte sich die Wirtschaft vor meinem geistigen Auge in eine feste Struktur, die in die Welt hineinpasste, sie völlig ausfüllte. Sie war bestimmt gut, die Welt-Wirtschaft, denn – so dachte ich mir - ein Wort, das sich aus drei Hauptwörtern zusammensetzte, hatte Gewicht, war bedeutsam: Welt-Wirtschafts-Krise. Weltwirtschaft schien nicht nur groß und kompakt, sie befand sich zudem in einer Krise. Hell und schnell erklang das Wort in meinem Ohr, drehte die Weltwirtschaft, wirbelte sie herum gleich einem doppelten Rittberger der Eiskunstläufer, die meine Großmutter so verehrte. Inmitten stand Großmutter, in der einen Hand die Tasche voll Geld, in der Anderen die Geldentwertung. Und wahrscheinlich handelte es sich bei der Geldentwertung um einen Automaten, in dem die Geldscheine ähnlich denen der Bahn abgestempelt wurden. So bedeutsam war sie die Große-Mutter.

Großmutter konnte auch von ihrer Begegnung mit dem Kaiser berichten. Erfüllt von einem ungeheurem Stolz erzählte sie mehr als einmal, dass sie ihm gewinkt hatte. Ich nahm an, dass sie ihn persönlich kannte. An solchen Nachmittagen strahlten ihre blauen Augen, die ihr warmes, breites Gesicht erleuchteten. Ein sich über den Mund bis zu ihren Augen ausbreitendes Lächeln steckte mich an, folglich ich die Begegnung mit einem Kaiser als die wahrhaftigste Angelegenheit der Welt verstand. Natürlich wusste ich wie ein Kaiser auszusehen hatte, denn Großmutter verfügte über Illustrierte, die ausgiebig Europas Königshäuser darzustellen wussten. Und so teilte ich ihre Einschätzung, dass Kaiser immer außerordentlich gut aussahen. Sie zeigten sich elegant gekleidet mit einer Ausstrahlung von Sanftmut, Fürsorglichkeit und dezenter Freundlichkeit. Mein fieberhaftes Stöbern in diesen Zeitschriften ergab, eine bei allen Kaisern vorhandene Würde, die ich aus meinem zwar sehr wichtigen aber dennoch alltäglichen Leben nicht kannte. Hierbei war es ziemlich unwichtig, welcher Gestalt ein Kaiser war, ob er schlank, gedrungen, stark, breit, groß, dick, wohlgeformt, klein, disproportioniert oder dünn war: ein Kaiser sah immer außerordentlich gut aus. Ich beneidete meine Großmutter um ihre Erfahrung, wenngleich ich mir ihre Begegnung nicht vorstellen konnte. Wo sollte in meiner Welt ein Kaiser Platz haben, denn wir hatten zuhause kein Schloss, keinen Balkon, auf dem sich der Kaiser dem Volk hätte zeigen können. Auch die Straßen in der Stadt erschienen mir für Paraden eher zu klein als angemessen. Großmutter, von der mir, bevor sie in mein Leben trat, bekannt war, dass sie in einem Haus auf dem Land lebte, schmückte ihre Erzählungen mit Paraden auf denen sie dem Kaiser zuwinkte. Stillschweigend nahm ich an, dass die Parade neben ihrem Haus längs führte. Land war eine weite Angelegenheit, deren Horizont im Nebel verschwand; die anderen Kaiser in den Zeitungen lebten auch alle auf dem Land, also warum nicht auch der Kaiser meiner Großmutter und zwischen ihnen die Parade. Noch während ich in meinem Kopf mit den Zeitschriften auf den Knien Großmutters Berichte, Erzählungen und Geschichten mit den Bildern in den Zeitschriften abglich, fieberhaft mir die Details zurechtlegte, konnte ich gar keine weiteren Erkundungen einholen, denn Großmutter befand sich auf ihrer Zeitreise bereits im 1. Weltkrieg. Es waren vor allem Geschichten, die Großvater in dem Krieg erlebt hatte. Ich hatte den Anschluss verpasst und konnte so nicht mehr herausfinden, ob die Prachtstraße mit dem Kaiser sich neben Großvaters Krieg befand oder ob sie durch den Krieg hindurchführte. Die ersten Worte, die ich wieder hörte, deuten darauf hin, dass Großvater in einem fremden Land namens Belgien den Krieg lebte. Daraus schloss ich, Großmutter lebte den Kaiser und Großvater lebte den Krieg gleichzeitig: Großmutter in ihrem Landhaus und Großvater in Schützengräben in Belgien. Schützengräben waren offensichtlich ganz kleine Häuser, um die herum ein Graben gebaut wurde und deren Dächer nicht sichtbar waren. Das hatte eine gewisse Plausibilität, denn Großvater war von kleinerem Wuchs als Großmutter. Großvaters Unternehmungslust passte in ein temperamentvolles Leben, das seine Brisanz aus einer Gefährlichkeit zog. Großvater also lebte mit vielen zusammen in den Schützengräben, musste kämpfen, aufpassen, dass er nicht verwundet wurde und seinen Kameraden helfen. Dieses Leben hatte eine Ähnlichkeit mit meinen Spielen: genauso Ernst, genauso mit Regeln, Streit und Rollen, die ausgeführt wurden. Unsere gedachten Häuser waren auch aus Sand - Baggermatsch um genauer zu sein. Wir bauten sie auf und bauten sie ab, bestimmten sie neu, befanden uns an immer anderen Orten. Wir spielten das Leben, das zumeist „Mutter und Kind“ hieß. Da ich mir nicht vorstellen konnte, dass Großvater auch spielte, beschloss ich, er lebte den Krieg, den die Erwachsenen vielleicht „das Spiel“ nannten. Während sich meine Gegenwartsgedanken, die ich um Großmutters Erzählungen spann, flickenteppichartig in meinem Kopf ausbreiteten, mit Geschwindigkeit anwuchsen bis sie den Kopf ausfüllten, wurde Großmutters Erzählung länger und geschlossener. Mit jedem Wort mehr bespickte sie ihr Leben, tauchte darin unter, holte aus der Tiefe kostbare Details. Und je mehr, großartiger und fantastischer ihr Früher war und je mehr sich ihr Früher in eine Zeitschiene fügte, desto mehr breitete sie ihr Leben flächig in dem Wohnzimmer der kleinen Mietwohnung aus bis dieses nur noch aus ihrem Leben bestand. Die Große-Mutter kam aus ihrer Ruhe heraus, entwickelte eine nie geahnte Lebendigkeit, wurde mal streng, mal lustig, mal weise, mal albern, mal zornig, dann wieder nachsichtig und liebevoll. Großmutters Früher war ihr Jetzt, mein Jetzt holte ich mir in diesem Moment aus dem Früher der Großen-Mutter für ein Später, das ich noch zu leben hatte. Großmutter lebte.

Kurz vor Großmutters Tod mündete ihr Leben in der Absolutheit der Gegenwart als Vergangenheit und Zukunft sich für einige Stunden trafen. Ein Moment, in dem sich Großmutter spüren wollte. Im unmittelbaren Vollzug ihres Seins, sog die Große-Mutter mit einem kräftigen Wehklagen das Leben auf, um dieses in den Tod mitzunehmen. Sie hinterließ mir meine Erinnerung an sie und mithin die Begründung eines Früher, das meine Zeit ausmacht.